Lauf, Betty. Lauf!

Als das Bein abgesägt wurde spürte sie keinen Schmerz. „Sie haben mir Betäubungsmittel gegeben!“ dachte sie und fiel wieder auf den Tisch zurück. Sie lag auf keinem Operationstisch, sondern auf einem ausziehbaren Esstisch, wie ihre Eltern ihn hatten.

Überhaupt sah es hier aus, wie im Esszimmer ihrer Eltern. Sie wußte auch nicht, wie sie hier her gekommen war. Gerade hatte sie sich von Klaus getrennt, jetzt lag sie auf dem Tisch.

Ein Traum.

Ein Albtraum. Read the rest of this entry

Vanilleeis mit heißen Kirschen

Er musste den Brief nicht öffnen. Die Zeichen waren zu klar, schon bevor der Postbote geklingelt hatte.

Ein Brief in blauem Umschlag. Er musste auf einem aufwendigen Formular unterschreiben, dass er den Brief erhalten habe. Gerichte verschicken Postzustellungsurkunden. Read the rest of this entry

Die Mutprobe

„Und jetzt sind Sie dran. Was war Ihre große Jugendsünde?“
Managerseminare können die Hölle sein, besonders die, bei denen sich Teilnehmer und Dozent abends auf ein Glas Wein treffen. Jugendsünden waren das Thema, aktuell durch die Diskussionen um die Jugendsünden von Bundesministern.
„Meine große Jugendsünde…“ sagte Müller, ließ seinen Blick schweifen und nippte am Bordeaux. „Ich fürchte, ich werde Ihre Geschichten überbieten.“
„Hört hört!“ Der Geschäftsführer der CDU-nahen Stiftung wurde neugierig.
„Ich habe keine Schallplatte geklaut,“ er blickte Howarth an, der irgendwas Wichtiges beim BKA war, „und ich habe auch meinem Religionslehrer kein Callgirl geschickt.“ Der Seitenhieb galt dem Zwischenrufer von der CDU-Stiftung.
„Ich habe einen Menschen umgebracht.“ Read the rest of this entry

Irgendein Inder

„Papa, wer ist das auf dem Bild?“
„Welches Bild“ Der Vater war so in die Zeitung vertieft, dass er sogar beim Sprechen die Satzzeichen vergaß.
„Papa, das Bild in der Zeitung.“
„Zeig mal drauf“ antwortete er genervt.
„Papa wer ist der Mann?“
Papa las die Bildunterschrift. „Das ist Ravi Shankar“, und versteckte sich wieder hinter dem Blatt.
„Den Namen hab ich schon mal gehört“ merkte die Mutter auf.
„Das ist so ein Inder.“ murmelte es hinter der Zeitung.
„Hatte der nicht irgendwas mit Kunst zu tun?“
„Ja nein, bei dem hat John Lennon Gitarre gelernt. Oder George Harrison.“
„Aber die Beatles waren doch arme Jungs aus Liverpool, die konnten doch nicht nach Indien reisen, um Gitarre zu lernen!“. Sie war auf eine Weise amüsiert, die nichts gutes verhieß.
„Dann war der Inder eben in England ach wassweissich.“
Das Kind beobachtete andere Gäste und schien die Eltern nicht mehr wahrzunehmen.
„Also, wir haben ein Kind, und da müssen wir schon beide drauf achten, dass wir ihm nicht irgendeinen Blödsinn erzählen.“ Ihre Stimme wurde schärfer.
„Was willst du?“ Er nahm genervt die Zeitung beiseite.
„Wir können unserem Kind nicht irgendeinen aus den Fingern gesogenen Blödsinn erzählen, wenn es uns etwas fragt.“
„Meinst du wegen dem komischen Inder?“
„Wegen des komischen Inders, wenn schon, Herr Germanist!“
Das Kind nahm sich Mamas Kugelschreiber und kritzelte auf Bierdeckeln rum, um beschäftigt auszusehen und das Gespräch nicht mitbekommen zu müssen.
„Soll ich jetzt von einer gewissen Diplom-Mathematikerin und ihrer Schwäche im Vermitteln der Bruchrechnung anfangen – oder was?“
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Nicht vor dem Kind!“ fauchte sie ihn an. „Nicht vor den Leuten!“
Schmallippig sahen sie an einander vorbei, aßen ihren Kuchen auf, leerten die Tassen, zahlten und gingen wortlos.

Vor der Aula

Ich stand vor der Schulaula in der Schlange und wunderte mich, wie vertraut alles noch war. Als wären gar nicht 15 Jahre vergangen seit ich hier mein Abschlusszeugnis entgegen genommen habe. Seit damals hatte ich die Schule nicht mehr betreten. Ich war zwar einige Male daran vorbeigefahren, aber aus der Nähe hatte ich sie nicht mehr gesehen. Read the rest of this entry

Herbstmorgen

Warum die beiden am selben Tisch saßen weiss ich nicht. Er saß seit 12 Uhr dort und sie kam vermutlich gegen 13 Uhr ins Café, als gerade die Marienchule Schluss hatte und nur an seinem Tisch ein Platz ohne tobende Teenies frei war.
Jedenfalls kamen sie ins Gespräch. Also er, denn die Dame, mit der er sonst dort saß und sich unterhielt, war gerade im Urlaub. Read the rest of this entry

Telefonnummern

Als meine erste erntshafte Beziehung begann hatten Telefone noch Wählscheiben.

Die Rufnummernübermittlung war noch nicht eingeführt, weil kein Telefon ein Display hatte, um die Nummer des Anrufers anzuzeigen. Telefonnummern hatte man im Kopf oder im Adressbuch. Und wenn man angerufen wurde, meldete man sich mit Namen und der Anrufer nannte den seinen.

Das ist heute anders. Wir speichern die Telefonnummern in Handy und Schnurlostelefon ein, und wenn mal ein Anruf eingeht, zu dem das Telefon keinen Namen nennen kann, runzeln wir die Stirn. Read the rest of this entry

q.e.d.

„Boah, haste gesehen? Die ‚kannste nicht woanders stehen und scheisse aussehen‘-Gruppe ist gelöscht.“

„Hä? Wieso das denn?“

„Das war doch ne Kampfgruppe, die Gegengruppe für irgendwelche Weltverbesserer. Oh, Tanja hat mich gegruschelt.“

„Ach genau, und die Weltverbesserer Sind wo? Welche Tanja meinst Du?“

„Die Ex vom Micha. Die Weltverbesserer find ich grad nicht.“

„Welcher Micha? Haste die Gegengruppe gegen die Gegen-Schalke-Gruppe schon gesehen?“

„Der Micha aus dem Matheleistungskurs.“

„Ach der. Hm. Hatten wir in Mathe eigentlich was auf?“

„Ja, den Satz des Pythagoras beweisen.“

„Beweisen? Was soll das denn sein?“

„Mensch, Beweisen ist das, wo du am Ende immer ‚f.a.q.‘ drunterschreibst.“

Die Geige

Ja, Frau Schneidereit, dass ich sie hier treffe, meine Güte, wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Letzte Woche? Nein! Doch? Meine Güte! Meine Güte!
Ist  das Wetter nicht furchtbar? Ach, gestern schien die Sonne?
Wissen Sie, diese Pianistin, die letzte Woche in der Konzerthalle auftreten sollte, die war zum Glück krank. Die lebt ja mit den Wölfen. Einem ganzen Rudel. Im Winter übt sie Klavier und im Sommer lebt sie mit den Wölfen. Wieso zum Glück krank?
Ich hatte doch keine Zeit, dem Konzert beizuwohnen. Ich war nämlich in Cottbus auf dem Klassentreffen, das war wirklich schön, auch die Stadt wiederzusehen, nach all den Jahren, und alle Schäden aus dem Krieg sind inzwischen beseitigt.
Wie geht es eigentlich Ihrem Mann? Tot? Mein aufrichtiges Beileid, wann ist es denn passiert? Vor drei Jahren? Meine Güte! Meine Güte!
Wissen sie, ich komme aus Cottbus, und meine Eltern haben damals auch dort gelebt und ich bin dort zur Schule gegangen. Und zum Klassentreffen bin ich mit der Bahn gefahren. Dieser neue ICE ist ja ein sehr schneller Zug, der fährt auf der Strecke nach Cottbus über einhundert Stundenkilometer, weil es sonst zu gefährlich wäre.
Meine Geigenschülerin für Fünfzehnuhr hat abgesagt, weil sie ihre Geige bei der Großmutter vergessen hat.
Und diese Pianistin, die lebt ja mit den Wölfen, das finde ich faszinierend, ich habe da auch einen Bildband zu Hause, den kann ich ihnen gerne leihen.
Als Kind, als ich damals Geigenunterricht hatte, habe ich einmal meine Geige im ICE vergessen, aber der freundliche Schaffner rief hinter mir her, als ich schon auf der Plattform stand und aussteigen wollte, oder war es ein anderer Fahrgast? Ich sehe den Moment noch vor meinem geistigen Auge, der ICE, der Rauch der Lok,
Das Klassentreffen war zum 50. Jubiläum der Volksschule, und ich sage auch meinen Musikschülern immer wieder, dass die Volksschule sehr wichtig ist, das sind ja die Grundlagen von allem, wenn man die Volksschule nicht abschließt, tut man sich später auf dem Gymnasium schwer.
Was sagen Sie denn zum Bundespräsidenten? Ist das nicht furchtbar? Übertrieben? Ja, völlig übertrieben, wie er da kritisiert wurde! Was, Rücktritt? Meine Güte! Meine Güte! Das hatten wir schon eine Ewigkeit nicht mehr, dass ein Bundespräsident zurücktritt! Ach, noch nie? Meine Güte, meine Güte!
Ach, Frau Schneidereit, es war schön, mal wieder mit ihnen gesprochen zu haben, ich muss jetzt aber wirklich weiter, bei all den schlimmen Sachen, die in letzter Zeit passieren, weiss ich gar nicht, wo mir der Kopf steht, der Rücktritt Ihres Mannes, der Tod des Bundespräsidenten, dieses furchtbare Wetter… Auf wiedersehen, Frau Schneidereit, auf Wiedersehen, meine Güte, meine Güte.

Dreitagebart

Tisch 4, Mittwochabend. Wie immer rücken die vier Paare noch einen anderen Tisch dazu, damit sie alle Platz finden.

Gleich bestellen sie Ihre Lattes, Cappus, Bagel, Salate.

Zehn Minuten später finden sie das Thema des Tages: Simi war mit Kolleginnen auf einer Dildo-Party. Ihre erste. Sie erzählte angeregt.

Drei der Männer versuchten, ein alternatives Gespräch über Autos, Schlagbohrmaschinen und Fußball zu führen, nur Klaus lauschte den Damen mit süffisantem Grinsen.

Caro ergriff das Wort. „Also, ich war auch schon ein paarmal auf Dildo-Parties, und das letzte Mal da hatte ich meine Tante dabei. Die wollte sowas auch mal machen. Und das war genau die Veranstalterin, wo Du auch warst.“

„Erzähl, was hat Deine Tante gekauft?“ wurde Simi neugierig.

„Sie hat nichts gekauft. Aber der Witz ist doch, was für kommische Gedanken man bekommt, wenn jemand aus der Familie dabei ist. Wir wurden ja begrüßt mit ‚Ich hoffe ihr habt euch auch alle gewaschen!‘ – dabei ist klar, dass wir die Dinger nicht auf der Party ausprobieren.“

„Ja! Das ist der Witz, damit die Gäste locker werden, wie aus dem Rethoriklehrbuch.“

„Eben. Und was denk ich in dem Moment? ‚Oh mein Gott! Tante Inge ist bestimmt nicht rasiert!‘.“

Die Damen prusten los, Klaus grinst breit.

„Was ist, Klaus, hast Du nen Clown verschluckt?“ fragt Simi.

„Ich könnte dann auf eine Dildoparty gehen.“ erwiedert er.

Vier Frauen schauen ihn überrascht und fragend an.

„Ich bin rasiert.“

Einer Schrecksekunde des Schweigens später sagt Moni „Spinner. Ich hab Dich noch nie rasiert gesehen, Du hast immer einen Dreitagebart.“

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