„Schon gehört? Die haben wieder eine Boje gefunden. Diesmal im Tootenmaar.“
„Und was hing dran?“ fragte der Gefreite Köse seinen Kameraden, während er sich die Stiefel zuschnürte. „Über oder unter 25?“
„Diesmal war sie erst achtzehn. Kam aus Trier. Die achte.“
Köse wohnte nicht in der Kaserne, sondern hatte das Ferienhaus seiner Eltern als Wohnsitz angemeldet. Rühmer, der im Nachbarort bei seinen Eltern wohnte, holte Köse jeden Morgen ab.
„Mein Bruder meint, der Killer hört jetzt bald auf.“
„Wie kommt er denn darauf?“ fragte Köse. Rühmers Anspielungen auf den Bruder, der Hauptkommissar war und die „Soko Maarkiller“ leitete, gingen ihm auf die Nerven.
„Die Leichen hatten in den Unterhosen Hinweise. Klaus sagt, langsam ist das Puzzle vollständig. Es fehlen nur noch ein oder zwei Teile, die alles aufklären.“
„Die Kripo rafft so was doch gar nicht, hier in der Provinz. Ein paar Milchkannendiebe und eine kleine Fahrerflucht sind hier das Spannendste. Der Killer kommt extra hierher, weil die Kripo dümmer ist als die Polizei erlaubt.“
„Quatsch! Er kommt hierher, weil er eine innere Beziehung zu den Maaren hat. Überleg mal: Die Leichen werden immer an der tiefsten Stelle versenkt und am Fuß ist mit einem Seil ein Luftballon angebunden. Das Seil ist genau so lang, dass der Ballon an die Oberfläche kommt, wenn die Leiche durch die Sandsäcke auf den Grund gezogen wurde. Er muss ein Kenner sein.“
Diese Erklärung hörte Köse jeden Freitag. Donnerstags, am späten Abend, versenkte der Killer seine Opfer. Ein anonymer Anruf von einem nicht registrierten Handy alarmierte die Polizei. Und Rühmers Bruder Klaus lernte wieder ein neues Maar kennen.
„Was Klaus sich nicht erklären kann ist, wie der Killer die Leichen zur tiefsten Stelle bringt. Er braucht dazu ein Boot, weil die Sandsäcke zu schwer sind, die Frauen schwimmend zu schleppen. Aber nirgends sind Spuren von Booten am Ufer zu sehen gewesen.“
Auch das wusste Köse schon.
„Sag mal…“, setzte Rühmer an und machte eine Kunstpause. „Was hältst du davon…“ Er blickte Köse bedeutungsvoll an. „…wenn wir der Kripo helfen? Die paar verbleibenden Maare besetzen wir Donnerstag Abend mit Wachposten im Tarnanzug, jeder mit seinem Handy, und wer den Killer sieht, ruft die Polizei.“ Die Aussicht auf ein Abenteuer machte Rühmer kribbelig.
„Warum nicht? Ich habe nichts besseres zu tun. Und bis Mitternacht waren die Leichen bisher immer versenkt. Aber wir brauchen noch ein paar Leute. Wie viele Maare wären das denn?“
„Klaus sagt, nach dem System des Killers nur noch vier. Und wir sind schon zwei. Noch zwei Freiwillige finde ich bis nächsten Donnerstag problemlos.“
„Ich bin dabei. Das wird spannend.“

Nach Dienstschluss fuhr er zum Wochenendhaus. Als er aus dem Auto stieg, kam Thomas ihm schon entgegen. „Hallo Heiner, geht’s jetzt auf die Nato-Rallye?“ Thomas war der Sohn des Bauern, dessen Hofgebäude hundert Meter vom Haus entfernt stand. Der Hof gehörte Köse senior und war an Thomas’ Vater verpachtet.
„Nee, ich muss noch Sachen in euren Schuppen bringen. Meine Mutter kommt am Wochenende mit einer Freundin, da muss alles sauber sein. Und in den Tauchclub muss ich auch noch, die Tauchflasche füllen.“
„Schon was Neues vom Killer gehört?“
„Diesmal war’s das Totenmaar. Fast vor der Haustür. Rühmers Bruder sagt, es bleiben höchstens vier Maare übrig.“
„Setzt die Polizei da jetzt Wachen ein?“
„Anscheinend nicht. Rühmer hat den Vorschlag gemacht, nächste Woche an den Maaren Wache zu schieben. Im Tarnen und Beobachten sind wir besser als die Polente. Selbst wir Fernmelder.“
„Wo kam das Opfer diesmal her?“
„Aus Trier. Vielleicht kannst du morgen im Volksfreund ein Interview mit den Eltern lesen. Sie war erst achtzehn und auf Studienfahrt in Berlin.“
Auf dem Weg zum Tauchclub dachte Köse an Sylvia. Er war Sonntag mit ihr verabredet, im Lokal, wo sie das erste Rendezvous hatten. Er machte sich aber keine Hoffnung auf eine Versöhnung. Diesmal versuchte er es nicht einmal.

Am nächsten Donnerstag trafen Köse, Rühmer und die beiden andern Wachposten sich in Köses Haus und trafen die Vorbereitungen. Es war 18.00 Uhr und sie hatten Pizza bestellt. Ab 19.00 Uhr wollten sie auf ihren Posten sein. Köse sollte am Weinfelder Maar sitzen.
Köse fuhr als letzter los, nachdem er seine Ausrüstung aus dem Schuppen geholt hatte. Im Gebüsch am Weinfelder Maar sitzend lauschte er dem Zirpen der Grillen. Sie hatten für ihre Sturmgewehre natürlich keine scharfe Munition bekommen, nur Platzpatronen, weshalb Köse seines im Wagen gelassen hatte. Wenn die Polizei doch Wache schiebt? Und besser getarnt ist? Infrarotkameras? Wie erklärte er seine Anwesenheit am Maar, in Tarnkleidung, mitten in der Nacht? Oder wenn ein Jäger käme, der ihn für ein Wildschwein hält?
Gegen 21.00 Uhr versank die Sonne und gebar eine sternenklare Nacht. Am Rand des Vulkankraters war es dunkler als auf den Feldern. Nur das Sternenlicht und eine schmale Mondsichel beleuchteten die Wasserfläche.
Es raschelte im Gebüsch. Köse zuckte zusammen – nein, zu nah und zu klein, kein Mensch. Waren da gerade Schritte zu hören? Oder ein schnaufender Atem – oder bildete er sich das nur ein? Vor ihm ertönte ein lautes Husten. Köse griff beherzt zur Taschenlampe. Ein Igel! Der erschreckte sich vor dem Licht so, wie Köse vor ihm und zog eine stachlige Kapuze über seine Stirn.
Es wurde 22.00 Uhr. Köse fror. Er ging zu seinem Wagen am Touristenparkplatz zurück. Öffnete den Kofferraum. Obenauf lag sein Sturmgewehr mit den Platzpatronen.
Er nahm es heraus und lehnte es gegen das Fahrzeug. Zog sich den Rucksack mit seiner Ausrüstung auf, dem Schlauchboot und der Tauchflasche, mit der er es heute zum letzten Mal aufblasen musste.
‚Sylvia’, dachte er und freute sich darauf, ihren kalten Körper in einigen Minuten zum Maar tragen zu können, um seine Arbeit mit einem grandiosen Finale abzuschließen.