Auf dem Weg durch das feuchte, hohe Gras blieb ihr Blick an einem Stück Moos hängen – es hockte auf einem sehr kleinen Felsen und widerstand wacker der Strömung des Baches.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß ins Wasser und zuckte zurück – so viel Wasser hatte sie noch nie gesehen. Es machte ihr Angst, wenngleich sie sich ohne Gefahr hineinbegeben konnte. Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin, nur fehlte ihr die Übung.
Davon hatte sie geträumt. Alle hatten ihr einreden wollen, ihre Träume hätten nichts zu bedeuten. Sie seien nur Phantasien, unerfüllte Wünsche. Alle träumten von Bächen, von Bäumen, von weichen Nestern. Sie solle warten bis, man sie abholte.
Sie spürte, das stimmte nicht. So wie viele andere es ahnten, sich die hoffnungslose Lage aber nicht eingestanden. Und sich in den Legenden der Zweiten Welt ereiferten, was sie dort für Schlaraffen würden, wie frei das Leben dort wäre und unbeschwert.
Hier, am Fluss angekommen, setzte sie sich hin und ruhte aus. Sie ließ sich die letzten Tage durch den Kopf gehen, all die Aufregungen und Gefahren. Sie war hungrig und müde, aber so glücklich wie nie zuvor.
Keiner hatte es ihr geglaubt; einmal hatte sie weit entfernt ihresgleichen gesehen, jenseits der Zäune, wo doch nach der Legende niemand leben konnte. Niemand, außer dem Fütterer.
Draußen kann niemand leben, denn dies ist unser Erstes Leben und nach dem Willen des Schöpfers ist es hart und elend. Es wird Versuchungen geben und Verlockungen, denen wir widerstehen müssen, damit wir für wert erachtet werden, am Tag des Geholtwerdens in das Zweite Leben zu dürfen. So lautete die Legende, die sie als Kind lernen musste.
Das habe vor vielen Generationen ein weiser Alter im Traum erfahren und es weitergegeben an seine Nachfahren und diese an die ihren und so fort.
Sie glaubte nicht daran. Gerüchte erzählten von Fremden, die vor langer Zeit kamen, nachts, leise und fast unbemerkt. Sie öffneten die Nester! Versuchung, der wir widerstehen müssen, sagten die Gläubigen.
Sie war eine Ungläubige. Das Zweite Leben war nicht ihre Bestimmung. Sie wollte nicht auf den Tag des Geholtwerdens warten, dann wäre es zu spät.
Als einer der Freunde aus dem Nachbarnest krank wurde, holte ihn der Fütterer. Für einen Moment war sein Nest offen und der Fütterer bewegte sich so langsam. Es sollte kein Problem sein, irgendwann hinauszuwischen, wenn der Fütterer ihr Nest öffnete. So würde sie fliehen.
Tagein tagaus übte sie den Sprint durchs Nest zur Tür, tagein tagaus wartete sie auf ihre Chance. In ihren Träumen schwamm sie behände durch reißende Gewässer, erklomm Bäume und Sträucher, fand einen Partner und bekam Kinder.
Und durfte nicht darüber sprechen; sie wäre für verrückt erklärt worden. Ihre Schwestern hätten sie gebissen und geschlagen und gekratzt, damit der Fütterer sie holte. Niemand wollte aussprechen, was denen passierte, die vor der Zeit geholt wurden.
Dann kamen immer wieder Fremde vorbei. Sie stritten sich mit dem Fütterer. Kein schlimmer Streit, denn niemand biss oder schlug jemanden, aber sie schimpften laut.
Und auf einmal wurden Nester frei gemacht.
Die Bewohner kamen in andere Nester, in manchen saßen vier oder fünf statt der üblichen drei. Bis der Nestblock fast leer war. Nur noch wenige fehlten, und ihres käme bald auch dran.
Sie übte diszipliniert den Sprint. An den harten Gitterstäben des Nestbodens lief sie sich die Füße wund.
Am nächsten Tag war es soweit. Sie sah, wie der Fütterer auf ihr Nest zu kam, sah, wie er eine Kiste nahm, das Nest öffnete und die erste ihrer Schwestern herauszog. Diese wehrte sich, wusste nicht, was ihr passiert, kam in die Kiste. Der Fütterer langte wieder ins Nest.
Die Angstschreie ihrer Schwester ließen viele inne halten in der Monotonie ihrer Bewegungen. Jede Ablenkung war ihnen recht.
Der Moment war gekommen. Als ihre zweite Schwester durch die Tür gezogen wurde rannte sie los. Sie erreichte die Tür, als ihre Schwester über der Kiste strampelte. Der Fütterer drehte sich um und wollte die Tür schließen. Da entwischte sie. Sie hörte wütendes Schnauben hinter sich und andere Töne des Fütterers.

Sie rannte um ihr Leben. Bis zum Zaun, wo sie schon ein Versteck ausgemacht hatte. Ihr Atem ging schnell, das Herz raste. Ihr Schwanz war kurz eingeklemmt, als sie durch die Tür glitt. Es tat etwas weh, aber sie war nicht verletzt. Wird schon wieder, dachte sie.
Sie wartete bis zur Nacht. Dann schlich sie zurück zu den Nestern, wo das Essen oben auf den Dächern verteilt war. Als sie sich näherte nahm sie einen beißenden Gestank wahr. Er kam von den Kothaufen unter den Nestern.
Ihr Leben lang kannte sie nur ihr Nest und hatte sich an den Geruch gewöhnt. Nahm in nicht wahr. Nach ein paar Stunden Entfernung bemerkte sie ihn wieder. Sie übergab sich. Der Hunger trieb sie weiter zum Futter.
Sie kletterte hinauf, ungeschickt, ungeübt. Schaffte es schließlich, erreichte das Futter auf dem ersten Nest. Die Bewohner – drei junge Männer – regten sich auf und wollten sie verjagen. Sie wich ihren Schlägen aus.
Sie streiften nur einzelne Büschel ihres dichten, schwarzbraunen Fells, die durch die Löcher des Nestdaches hineinragten. Das Fell würde sie im Winter gut wärmen. So ging es einige Tage. War es hell, versteckte sie sich.
Nachts war sie sicher vor dem Fütterer und konnte den Zaun nach einem Loch absuchen. Draußen hatte sie ihresgleichen gesehen. Ohne Loch wäre niemand hinausgekommen. Es musste also einen Weg geben, und den würde sie finden.
Schließlich fand sie eine Lücke im Geflecht. Zwei Tage hatte sie nur einige Schritte davon geschlafen, ohne sie zu bemerken. Sie schlüpfte durch und lief. Stund um Stunde nutzte sie die Nacht zum Laufen, kam schließlich an einen Baum, dessen Spalt sie als Nest nehmen konnte. Sie schlief den Tag über, unruhig und wachsam. In der Nacht machte sie sich wieder auf den Weg. Sie hatte die Vision von Wasser.
Und sie hatte Hunger. Unterwegs fand sie eine tote Maus und aß sie auf. Nie hatte sie sich Gedanken gemacht, wovon sie ohne den Fütterer leben würde.
Als der Morgen graute, stillte sie ihren Durst am Tau und fand ein Erdloch, das als Nest gut war.
Donner weckten sie, Erschütterungen und laute Geräusche. Sie hielt sich versteckt und als sie die Hunde wahrnahm bekam sie Angst. Fremde trampelten wie eine Herde großer, plumper Tiere durch den Wald und schienen etwas zu suchen.
Als es wieder ruhig war, schlich sie weiter ihres Weges und fand ein Kaninchen, das aus einer Wunde am Hinterlauf viel Blut verloren hatte. Instinktiv wusste sie, sie könnte es essen wie schon die tote Maus. Nur lebte es noch.
Sie näherte sich, visierte den Nacken an. Sie bereitete den Sprung vor, alle Muskeln vibrierten – ein Satz – sie packte ihre Beute im Nacken und biss zu, so fest und so lange, bis sie keine Regung mehr spürte.
In der nächsten Nacht entdeckte sie die Witterung eines Wesens, das ihresgleichen war, und folgte ihm. Nach kurzer Zeit fand sie ihren Verwandten. Dieser sagte, sie könne nicht bleiben, weil das Essen nicht für zwei reichte. Aber in Richtung Sonnenaufgang sei noch Platz.
In der folgenden Nacht und in den darauf folgenden lief sie in Richtung Sonnenaufgang. Wenn sie etwas zu essen fand machte sie Rast, aß und lief weiter. Sie lernte, wie sie Beute aufspürte, lernte ihren Geruchssinn kennen, schulte ihr Gehör, ihre Augen. Fand sogar ihr Tastsinn an den hellen Laufflächen ihrer sonst schwarzbraunen Pfoten hilfreich, wenn sie in ein Mäuseloch hineinlangte.
Und dann, sie konnte sich an den Geruch der Haufen unter ihrem Nest und an ihre Schwestern nicht mehr erinnern, witterte sie Wasser. Viel Wasser. Es rauschte, plätscherte.
Auf dem Weg durch das feuchte, hohe Gras blieb ihr Blick an einem Stück Moos hängen – es hockte auf einem sehr kleinen Felsen und widerstand wacker der Strömung des Baches.

Dies sollte ihr zweites Leben sein.