„Und jetzt sind Sie dran. Was war Ihre große Jugendsünde?“
Managerseminare können die Hölle sein, besonders die, bei denen sich Teilnehmer und Dozent abends auf ein Glas Wein treffen. Jugendsünden waren das Thema, aktuell durch die Diskussionen um die Jugendsünden von Bundesministern.
„Meine große Jugendsünde…“ sagte Müller, ließ seinen Blick schweifen und nippte am Bordeaux. „Ich fürchte, ich werde Ihre Geschichten überbieten.“
„Hört hört!“ Der Geschäftsführer der CDU-nahen Stiftung wurde neugierig.
„Ich habe keine Schallplatte geklaut,“ er blickte Howarth an, der irgendwas Wichtiges beim BKA war, „und ich habe auch meinem Religionslehrer kein Callgirl geschickt.“ Der Seitenhieb galt dem Zwischenrufer von der CDU-Stiftung.
„Ich habe einen Menschen umgebracht.“„Das ist ein Ding!“ BKA-Howarth staunte nicht schlecht.
„Gut, ich habe niemanden umgebracht, aber ich habe maßgeblichen Anteil am Tod eines Menschen.“
Müller blickte in die Runde und genoss das Erstaunen.
„Das war damals, 1977. Sechste Klasse, erster Versuch. Kurz nach den Sommerferien. Es war heiß und wir waren an das andere Ende von Düsseldorf gezogen, weil meine Eltern ein Haus gebaut hatten. Deshalb musste ich auch die Schule wechseln und neue Freunde finden.“
„1977, da hatten Telefone noch Wählscheiben…“ kam der Kommentar vom BKA „…und RTL war damals nur ein Mittelwellensender mit Hitparaden!“ setzte der Dozent ein.
Müller schmunzelte. „In der Siedlung am Stadtrand gab es eine Clique. Markus war der Anführer. Er war der älteste und hatte auch schon eine Freundin.“
„Informelle Führungsperson, Sie erinnern sich an heute vormittag“ – der Dozent kam aus seiner Rolle einfach nicht heraus.
„Um in die Clique aufgenommen zu werden, musste jeder eine Mutprobe ablegen, die von Markus bestimmt wurde. Meine Mutprobe war vergleichsweise leicht zu bestehen.“
Der Dozent bestellte eine neue Flasche Bordeaux.
„Andere hatten weniger Glück als ich. Stefan sollte einem bestimmten Mädchen seiner Klasse einen Schlüpfer klauen, einen getragenen versteht sich. Fast unmöglich, wenn man sie nicht gerade überfallen will. Selbst im Schwimmbad war er erfolglos. Ich sollte lediglich einer Frau die Handtasche stehlen. Egal, wo und wem. Hauptsache geklaut.“
Der Wein kam und die Gläser wurden gefüllt.
„Ich fuhr an einem Samstag ins Einkaufszentrum unseres Stadtteils. Ein Fußballtrikot, eine Schirmmütze und eine Sonnenbrille als Tarnung bekam ich von einem Nachbarsjungen. Ich wollte nicht wiedererkannt werden – schließlich ging ich nur zwei Straßen entfernt zur Schule. Mein Fahrrad stand an eine Laterne gelehnt bereit. Ich stellte mich neben den Ausgang des Penny-Marktes.“
„Fast wie ein Profi-Bankräuber!“ Der BKA-Mann nickte anerkennend.
„Dann sah ich eine steifbeinige Rentnerin in den Laden gehen und wusste: Sie wird mein Opfer sein! Wenn sie wieder herauskommt, ihre Queen-Elisabeth-Handtasche in der einen und die Einkaufstüte in der anderen Hand, dann schlägst du zu.“
„Es dauerte nicht lange und sie verließ das Geschäft. Ich rannte los und rempelte sie an. Ihre Einkaufstüte fiel zu Boden und sie holte mit der Handtasche aus, um mich zu schlagen. Ich hatte es auf die Tasche abgesehen, also war das perfekt. Ich griff zu.“
„Seien Sie froh, dass dieser Raubüberfall verjährt ist!“ BKA-Howarth betrachtete den Fall gleich kriminalistisch.
„Mit der Handtasche rannte ich zu meinem Rennrad, ergriff es, sprang aus dem Lauf auf das Rad und raste nach Hause. Vier oder fünf Kilometer bergauf. Nie in meinem Leben war ich so außer Atem wie damals.“
„Lassen Sie mich raten!“ Die Augen des Dozenten glühten. „In der Tasche war ein wichtiges Medikament für den hinfälligen Gatten der Dame und sie konnte es ihm nicht mehr rechtzeitig verabreichen, auf dass er dahinschied!“
„Weit gefehlt!“ Müller erschrak über seinen Mut. Die Geschichte hatte er schon ein Dutzend Mal erzählt, aber nie bis zum Ende, immer nur bis zum Raub. Welcher Teufel ritt ihn heute bloß? Monate lang hatte er damals Albträume, seine Eltern wollten ihn fast zu einem Therapeuten schicken.
„Wir hatten uns am Abgang eines Fahrradkellers verabredet. Das heißt: Ich musste dort warten, bis man mich hinein ließ. Die Clique tat sich wichtig. Dann war es soweit. Markus ließ sich die Handtasche zeigen, die ich in eine Plastiktüte gewickelt hatte.“
Müller holte tief Luft.
„Markus begann, die Handtasche zu filzen. Nichts Unerwartetes: Einige Medikamente, Taschentücher, Nagellack, Lippenstift, ein Spiegel, ein Portemonnaie mit etwas Kleingeld, ein gepolsterter Umschlag.“
Müller wusste: Jetzt geht es ans Eingemachte. Er hatte sich die Suppe eingebrockt und musste sie auslöffeln. Fast ein Vierteljahrhundert hatte er Stillschweigen bewahrt. Er bekam Angst.
„Was war mit dem Umschlag?“ Der BKA-Mann brachte es auf den Punkt.
„Der Umschlag war adressiert und frankiert. Die alte Dame wollte ihn wohl noch in den Briefkasten werfen.“ Die neugierigen Blicke seiner Zuhörer ließen ihn die Angst vergessen.
„Erzählen Sie schon! An wen war der Brief?“
„Er ging an Frau Elisabeth Ringelsdörfer in München.“ Er ließ sich jedes Wort auf der Zunge zergehen.
„Mein Gott! Die Frau von Rudolf Ringelsdörfer senior, dem Privatbankier, der entführt wurde!“
„Genau die.“
Howarth gab den Kriminologen. „Ein klassischer Schulbuchfall. Er wurde umgebracht. Angeblich haben die Angehörigen die Anweisungen zur Geldübergabe nicht erhalten, die per Post zugeschickt worden sein sollten. Mein Gott! Müller! Mir wird einiges klar!“
Müller fuhr fort. „Im Umschlag befand sich ein typischer Erpresserbrief. Mit Buchstaben aus Zeitungsschlagzeilen geklebt. Zeit und Ort der Geldübergabe waren da notiert.“
„Aber wie kam die alte Dame zu dem Brief?“ Bei der CDU schien man keine Krimis zu lesen. Howarth klärte ihn auf.
„Die Entführer haben zwar von München aus agiert, aber ihre Briefe schickten sie offenbar über Freunde und Bekannte ab: Jeder Brief aus einem anderen Ort. Vielleicht war die Dame die Großmutter eines Freundes der Täter. Jedenfalls wusste sie nicht, was im Umschlag war. Sonst hätte sie ihn nicht spazieren getragen.“
„Warum haben sie ihn nicht wieder zugemacht und abgeschickt?“ Der christlich-soziale Manager sah Müller an.
„Umschlag und Papier waren voll mit unseren Fingerabdrücken. Wir hatten Angst.“
„Und warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?“ Der Dozent war neugierig.
„Einmal, weil die Handtasche geklaut war. Das war zu heiß. Und dann, weil wir aus jedem zweiten Fernsehkrimi wussten, wie Gangster mit Verrätern umgehen: Rübe ab!“ Müller machte die passende Handbewegung.
„Also ließen Sie den Umschlag verschwinden?“
Müller wurde es ungemütlich. Das Thema gefiel ihm nicht, seine Ängste und Schuldgefühle von damals kamen wieder hoch. Außerdem hatte der Wein seine Blase nicht unerheblich gefüllt.
„Ja, er liegt wohl bis heute in die Plastiktüte gewickelt im Wald vergraben.“
„Und sie meinen, weil der Brief nicht angekommen ist, wurde Ringelsdörfer getötet?“ Die CDU wollte es ganz genau wissen.
„Ja. Ganz sicher. Seine Leiche wurde am Tag nach dem geplatzten Geldübergabetermin gefunden. In einem furchtbaren Zustand. Mit einem Brief, warum er getötet wurde.“ Müller spürte einen immensen Druck in seiner Blase und rutschte auf dem Kneipenstuhl hin und her.
„Machen Sie sich keine Sorgen“ Howarth schüttelte den Kopf. „Ringelsdörfer wurde an dem Tag umgebracht, an dem die Familie ihre Bereitschaft zur Lösegeldzahlung signalisiert hatte. Die Gerichtsmedizin war sich da ganz sicher. Deshalb haben die Entführer wohl auch keinen neuen Termin für die Übergabe vereinbart – die Familie hatte einen Beweis gefordert, dass er noch lebt.“
All das hatte Müller schon gehört. Das Buch, das einige Jahre nach der Entführung veröffentlicht wurde, beschrieb diese Ermittlungsergebnisse genau.
Er hatte mit dem Tod des Bankiers gar nichts zu tun!
„Die Familie hatte als Bedingung für die Zahlung einen Beweis gefordert: ein Foto mit Ringelsdörfer und einer aktuellen Tageszeitung darauf, und seinen Ehering.“ Howarth kannte den Fall wirklich genau.
Das Lokal begann, sich um ihn zu drehen. „Ja, im Umschlag war noch etwas drin, er war ja gepolstert… Ein Polaroid-Bild von einem Mann in irgendeinem Keller, in der Hand eine BILD… und in Zeitungspapier gewickelt…“
„Erzählen Sie!“ Der CDU-Mann witterte eine Sensation.
„…in das Zeitungspapier gewickelt…“ – er musste es sagen. Natürlich! Es war nicht der Tod des Mannes, der ihm die Albträume verschafft hatte. All die Jahre hatte er sich nicht getraut, die Geschichte zu Ende zu denken oder gar zu erzählen.
Er spürte nicht mehr, wie seine Blase sich allmählich entleerte.
„Im Papier… da war der Ehering, in einer Plastiktüte…zusammen mit seinem Ringfinger!“