Archive for Dezember, 2010

Die Mutprobe

„Und jetzt sind Sie dran. Was war Ihre große Jugendsünde?“
Managerseminare können die Hölle sein, besonders die, bei denen sich Teilnehmer und Dozent abends auf ein Glas Wein treffen. Jugendsünden waren das Thema, aktuell durch die Diskussionen um die Jugendsünden von Bundesministern.
„Meine große Jugendsünde…“ sagte Müller, ließ seinen Blick schweifen und nippte am Bordeaux. „Ich fürchte, ich werde Ihre Geschichten überbieten.“
„Hört hört!“ Der Geschäftsführer der CDU-nahen Stiftung wurde neugierig.
„Ich habe keine Schallplatte geklaut,“ er blickte Howarth an, der irgendwas Wichtiges beim BKA war, „und ich habe auch meinem Religionslehrer kein Callgirl geschickt.“ Der Seitenhieb galt dem Zwischenrufer von der CDU-Stiftung.
„Ich habe einen Menschen umgebracht.“ Read the rest of this entry

Irgendein Inder

„Papa, wer ist das auf dem Bild?“
„Welches Bild“ Der Vater war so in die Zeitung vertieft, dass er sogar beim Sprechen die Satzzeichen vergaß.
„Papa, das Bild in der Zeitung.“
„Zeig mal drauf“ antwortete er genervt.
„Papa wer ist der Mann?“
Papa las die Bildunterschrift. „Das ist Ravi Shankar“, und versteckte sich wieder hinter dem Blatt.
„Den Namen hab ich schon mal gehört“ merkte die Mutter auf.
„Das ist so ein Inder.“ murmelte es hinter der Zeitung.
„Hatte der nicht irgendwas mit Kunst zu tun?“
„Ja nein, bei dem hat John Lennon Gitarre gelernt. Oder George Harrison.“
„Aber die Beatles waren doch arme Jungs aus Liverpool, die konnten doch nicht nach Indien reisen, um Gitarre zu lernen!“. Sie war auf eine Weise amüsiert, die nichts gutes verhieß.
„Dann war der Inder eben in England ach wassweissich.“
Das Kind beobachtete andere Gäste und schien die Eltern nicht mehr wahrzunehmen.
„Also, wir haben ein Kind, und da müssen wir schon beide drauf achten, dass wir ihm nicht irgendeinen Blödsinn erzählen.“ Ihre Stimme wurde schärfer.
„Was willst du?“ Er nahm genervt die Zeitung beiseite.
„Wir können unserem Kind nicht irgendeinen aus den Fingern gesogenen Blödsinn erzählen, wenn es uns etwas fragt.“
„Meinst du wegen dem komischen Inder?“
„Wegen des komischen Inders, wenn schon, Herr Germanist!“
Das Kind nahm sich Mamas Kugelschreiber und kritzelte auf Bierdeckeln rum, um beschäftigt auszusehen und das Gespräch nicht mitbekommen zu müssen.
„Soll ich jetzt von einer gewissen Diplom-Mathematikerin und ihrer Schwäche im Vermitteln der Bruchrechnung anfangen – oder was?“
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Nicht vor dem Kind!“ fauchte sie ihn an. „Nicht vor den Leuten!“
Schmallippig sahen sie an einander vorbei, aßen ihren Kuchen auf, leerten die Tassen, zahlten und gingen wortlos.

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