Als das Bein abgesägt wurde spürte sie keinen Schmerz. „Sie haben mir Betäubungsmittel gegeben!“ dachte sie und fiel wieder auf den Tisch zurück. Sie lag auf keinem Operationstisch, sondern auf einem ausziehbaren Esstisch, wie ihre Eltern ihn hatten.
Überhaupt sah es hier aus, wie im Esszimmer ihrer Eltern. Sie wußte auch nicht, wie sie hier her gekommen war. Gerade hatte sie sich von Klaus getrennt, jetzt lag sie auf dem Tisch.
Ein Traum.
Ein Albtraum.
Sie schlug die Augen auf und fand sich in einem mondhellen Schlafzimmer. Zum Glück hatte sie gelernt, ihre Albträume zu erkennen und bewusst aufzuwachen. Das mit der Orientierung musste sie noch üben.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich zurechtfand. Das Fenster war links von ihrem Bett. Ein Doppelbett, nur eine Hälfte war bezogen. Ein Bauernbett, vermutlich aus Nadelholz, genau konnte sie es nicht erkennen.
Thomas‘ Gästezimmer. Sie erinnerte sich.
Vor drei Monaten hatte sie Thomas kennen gelernt. Es war wie im Film: Sie kellnerte nach der Uni und brachte ihm ein Zigeunerschnitzel und ein Pils. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein Typ wie David Duchowny, groß, körperbetont, aber weich und mit einem unwiderstehlich romantischen Blick.
Er kam fast jeden Tag, und sie flirteten miteinander. Zumindest Betty flirtete und kam sich wieder wie damals vor, als sie in den Physiklehrer verliebt war.
Thomas war 10 Jahre älter und Schriftsteller. Er schrieb Thriller, sowohl Romane als auch Drehbücher für das Fernsehen. Sie hatte seinen Namen noch nie gehört, aber das lag wohl daran, dass sie keine Thriller las.
Thomas schien sich zunächst nicht für sie zu interessieren. Der Wirt klärte sie auf: Seine Frau war kürzlich bei einem Unfall verstorben. Er fühlte sich noch nicht bereit für eine andere Beziehung. Und sei es nur für eine Nacht.
Drei Monate brauchte Betty, um ihn weichzukochen. Und nun hatte sie es geschafft: Sie war in seinem Haus, hatte einen lauschigen Abend mit ihm verbracht und lag in seinem Bett.
Na gut, es war sein Gästebett.
Aber das lag nur daran, dass er seiner verstorbenen Frau in Gedanken noch treu war – und das fand Betty viel aufregender als jeden One Night Stand.
Sie erinnerte sich wieder an Details des vorigen Abends. Thomas hatte köstlich gekocht und sogar vegetarisch. Unmengen Gemüse und Nudeln, meisterhaft zubereitet. Ein hervorragender Rotwein. Den Rotwein, den sie sich vom kargen Einkommen einer Studentin leisten konnte, hatte sie nie gemocht und war überrascht, wie gut eine teure Sorte schmecken kann.
Dann saßen sie am Kamin und erzählten von ihren Familien, von ihren Hobbys und Vorlieben. Nach Mitternacht bat sie Thomas, ihr von seinen Romanen zu erzählen.
Sie ahnte nicht, worauf sie sich einließ.
Es waren Splatter-Geschichten. Blut troff aus sämtlichen Fugen, eklige Eingeweide spritzten durch Zimmer, glibberige Gedärme blieben an trüben Tatorten zurück. Paranoide Psychopathen machten Jagd auf ohnmächtige Opfer.
Die Albträume waren also erklärt.
Nun, sie musste seine Bücher ja nicht lesen. Seine Frau, sagte er, habe die Bücher auch nicht lesen wollen, und er habe dafür Verständnis gehabt.
Er war ein wahrer Ritter.
Ihre Blase war voll – zu viel Wein. Sie erinnerte sich, dass die Toilette eine Etage tiefer war.
Der alte Bauernhof, den Thomas zum Domizil ausgebaut hatte, war traumhaft. Klammheimlich nahm sie in Gedanken schon Änderungen an der Einrichtung vor – sie wollte den Dingen ja nicht vorgreifen, aber Thomas war im Sack. So hätte es Kari jedenfalls ausgedrückt.
„Du bist ja noch betrunken!“ schalt sie sich auf dem Weg durch den Gang. Sie konnte ein Kichern nicht unterdrücken, als sie merkte, dass sie nach fünf Semestern Medizin die Formel für den Abbau von Alkohol ausgerechnet unter Alkohol nicht anwenden konnte. Egal, wieviel Restalkohol es war, es war reichlich.
Die Blase war leer und sie hatte Durst. Während des Albtraums hatte sie wohl wieder geschrien, jetzt kratzte die Kehle. Im Wohnzimmer am Kamin stand bestimmt noch Wein.
Betty fand keine offene Flasche und entkorkte eine aus dem Weinregal. Das war die Sorte, die sie am Abend getrunken hatten. Die Gläser standen noch da – Thomas war wohl auch zu betrunken gewesen, um aufzuräumen. Oder hatte er eine Haushälterin, die jeden Morgen aufräumte?
Der Wein schmeckte bitter.
Endlich hatte sie die Gelegenheit, sein Bücherregal zu inspizieren. Sag mir, was du liest, und ich sag dir, wer du bist.
Alle möglichen Krimiklassiker – Chandler, Christie, Highsmith. Ein ganzes Regalbrett mit kriminologischen Büchern. Psychologie. Das hatte er mal studiert, dann aber abgebrochen, erinnerte sich Betty.
Ein Pschyrembel, das Fachwörterbuch für Mediziner. Fachbücher über Chirurgie. Sie könnte sich bestimmt mal was ausleihen, wenn sie sich auf Prüfungen vorbereitet. Hier standen brandneue Ausgaben von Schätzchen, die in der Unibibliothek hoffnungslos veraltet waren und in der Buchhandlung mehr als ihre Monatseinkünfte kosteten.
Ein Traummann! Wenn sie ihn durch ihr Geschrei bloß nicht geweckt hatte.
Thomas‘ Schlafzimmer war im Erdgeschoss. Romantik hin oder her – sie hatte jetzt Lust auf ihn und trank sich Mut an, ihn in seinem Schlafzimmer heimzusuchen.
Der Albtraum war bestimmt nicht zu überhören gewesen. Klaus hatte immer gesagt, eines Tages würden die Nachbarn die Polizei rufen, wenn sie träumte.
Wenn Thomas fragte, dann hätte sie eben Angst. Welcher Mann kann da schon nein sagen?
Sie öffnete vorsichtig die Schlafzimmertür.
Das Bett war leer.
Unberührt – dabei zeigte der Wecker auf dem Nachttisch halb fünf an. Sie waren vor über drei Stunden zu Bett gegangen.
Betty sah sich um. Sollte sie hier auf ihn warten? Wo war er?
Der Alkohol machte sie mutig. Sie hatte sich mit Kari geschworen, dass sie keinen Mann haben wollten, der Schiesser Feinripp trägt.
Was trägt Thomas wohl? Sie öffnete die oberste Schublade der Kommode.
Briefe, fein gebündelt und sortiert. Nein, sie würde nicht nachsehen, von wem.
Eine Schublade tiefer war Bettwäsche.
Das chirurgische Besteck fand sie in der zweituntersten Schublade.
Säuberlich aufgereiht lagen da Skalpelle, Zangen, Klammern und andere glitzernde Gegenstände. In ihren Fächern sahen sie harmlos aus wie das Silberbesteck ihrer Eltern.
Betty runzelte die Stirn. Blinddarmoperation in Heimarbeit? Thomas war kein Chirurg.
Ob noch mehr Überraschungen auf sie warteten?
Sie ging zum Bett.
Vielleicht war es doch besser, den Kontakt abzubrechen, dachte sie.
In der Schublade des Nachttischs lagen Handschellen. Vier Paar.
Es war definitiv das einzig Richtige, dachte sie, den Kontakt zu beenden. Und zwar jetzt gleich.
Ein Geräusch schreckte sie auf. Woher kam es? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie das, was sie gesehen hatte, hätte sehen dürfen. Auf Thomas‘ Reaktion, wenn er sie hier entdeckte, war sie kein bisschen neugierig.
Sie hatte nicht mehr den Wunsch, hier eines Tages Einrichtungsgegenstände hinzuzufügen oder zu entfernen. Entfernen wollte sie nur noch sich selbst, und das so schnell wie möglich.
Der Typ schrieb nicht nur Geschichten aus dem Orkus des guten Geschmacks, er war offenbar genauso pervers wie seine Hauptfiguren.
Und selbst, wenn er mit Skalpellen und Handschellen nur spielte und das alles brauchte, um seine Geschichten schreiben zu können, wollte Betty davon nichts wissen. Jeder hat irgendwann mal Probleme und wird etwas sonderbar. Aber ein sonderbarer Mensch, mit dem sie das Bett teilt, war ihr viel sympathischer, wenn er keine Skalpelle und Handschellen besaß.
Sie schlich wieder in die erste Etage und betrat das Gästezimmer. Sie zog ihre Jeans an und stopfte das T-Shirt in die Hose. Socken und Schuhe, Pullover. Sie fühlte sich schon sicherer, nicht mehr so verwundbar.
Sie riss die Türen des Kleiderschrankes auf. Die Handtasche.
Darin war die Gaspistole. Klein und fein. Sie steckte sie hinten in den Hosenbund. Der Pullover verdeckte den Griff. Das kalte Metall zu spüren gab ihr ein sicheres Gefühl. Sie hatte sich die Pistole gekauft, um nachts gesund von der Kneipe nach Hause zu kommen. Gebraucht hatte sie sie noch nicht, aber schießen geübt hatte sie.
Fahren konnte sie nicht mehr, dafür hatte sie zu viel Alkohol im Blut. Außerdem hatte sie gar kein Auto und müsste erst Thomas‘ Autoschlüssel finden. Also ein Taxi rufen. Sie war mitten auf dem Land, Kilometer entfernt vom nächsten Ort. Sie wußte gar nicht, wo der nächste Ort war. Sie wußte nur die Adresse. „Hoffentlich hat der Taxifahrer bei der Ortskundeprüfung nicht geschummelt“, dachte sie. Den Weg zum Hof konnte sie jedenfalls nicht erklären, sie hatte nicht darauf geachtet, als Thomas sie vom Bahnhof abgeholt hatte.
Sie schaltete ihr Handy ein, um ein Taxi zu rufen – kein Empfang.
Betty steckte das Nötigste in ihre Hosentaschen – Geld, Schlüssel, Papiere – den Rest in den Rucksack.
Irgendwo muss doch ein Telefon sein! Sie hatte gestern das Mobilteil eines schnurlosen Telefons gesehen und überlegte gerade wo, als sie ein leises Summen wahrnahm.
Es kam aus dem Ficus Benjamini in der Zimmerecke.
Sie drehte die Nachttischlampe in Richtung Pflanze und untersuchte die Angelegenheit.
Ein kleiner, kugelförmiger Gegenstand mit einem Objektiv auf der einen Seite. An der Wand befestigt bewegte er sich am Ende eines Metallrohrs mit leisem Surren und stoppte, als das Objektiv auf Bettys Gesicht gerichtet war. Sie sah ein kleines schwarzes Stück Klebeband unter dem Objektiv und riß es ab. Eine kleine Leuchtdiode war darunter. Sie zeigte den Betrieb der Kamera an.
Jemand beobachtete sie.
Thomas beobachtete sie.
Hatte er durch die Kamera die Gaspistole gesehen? Sie schätzte den Blickwinkel des Objektivs und hatte die Hoffnung, hinter der Schranktür verborgen gewesen zu sein, als sie sich bewaffnete.
Sie musste das verdammte Telefon finden.
Im Wohnzimmer war es nicht. Hatte er hier auch Kameras? Wo auch immer die Monitore waren – der perverse Typ saß mit Sicherheit dort. Und beobachtete Betty. Was er sonst noch tat wollte sie gar nicht wissen.
In Thomas‘ Schlafzimmer war das Telefon auch nicht. Sie hörte ein Geräusch aus dem ersten Stock. Das Telefon! Wo ist das blöde Ding?
Der Kellerabgang. Sie hatte den Keller noch nicht betreten. Thomas meinte, dort sei nur sein Arbeitszimmer.
Sie öffnete die Tür.
Im ersten Stock polterte etwas.
Der Keller war hell erleuchtet. Ein riesiges Büro, drei Schreibtische. Auf einem standen mehrere kleine Bildschirme.
Auf einem Monitor sah sie ihr Gästezimmer, auf anderen das Schlafzimmer und das Wohnzimmer aus je zwei Perspektiven. Der Kellerabgang, die Küche. Das ganze Haus war überwacht.
Der zweite Schreibtisch entpuppte sich als Zeichentisch.
Am dritten schien er zu schreiben.
Das Telefon war nicht zu finden. Da war ein Fax, aber wem sollte sie so spät nachts einen Hilferuf faxen?
Der PC war eingeschaltet. Rote Tropfen liefen über den Bildschirm – mit einem anderen Bildschirmschoner hatte sie nicht ernsthaft gerechnet.
Sie berührte eine Taste.
Ein Textverarbeitungsprogramm erschien.
Er hatte gerade an einer Geschichte geschrieben.
„Arbeitstitel: Lauf Betty, Lauf!“
Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken.
Betty nahm die Gaspistole zur Hand.
Sie lud sie durch und kontrollierte, ob die Waffe gesichert war. Kari hatte ihr an einem Styroporklotz gezeigt, dass eine Gaspistole verheerende Wirkung haben kann, wenn sie in Körpernähe losgeht. Betty steckt die flache Automatik diesmal vorne in den Hosenbund. Das war zwar unbequem, aber sie kam schneller dran.
Sie überflog die erste Seite des Manuskripts. Ein Mann, der gerade seine Frau umgebracht hat, lernt in einer Kneipe eine Studentin kennen. Sie soll sein nächstes Opfer sein.
Betty glaubte nicht, was sie da las.
Sie versuchte, aus dem Albtraum aufzuwachen. Vergeblich, das war bereits in der Realität.
Sie blätterte weiter vor.
An einem lauschigen Aprilabend treffen sie sich, der Killer holt sein Opfer am Bahnhof ab und bringt es zu einem abgelegenen Haus.
„Dieses Arschloch!“, dachte Betty und wurde wütend.
Sie blätterte auf die Letzte Seite.
„Auf dem Schreibtisch fand sie ein Manuskript für einen Roman vor.“ las sie.
Ihr Herzschlag ging auf 180. Sie griff intuitiv nach der Pistole und hakte die rechte Hand am Hosenbund ein.
„Ihr Herz raste vor Angst.“
Sie war wie gelähmt.
„Sie wollte fliehen, war aber wie gelähmt.“
Ihr Atem wurde heftiger.
„Sie atmete immer heftiger und dachte nur noch: Lauf Betty, Lauf!“
Betty hörte hinter sich ein Lachen.
Sie zwang sich, stehen zu bleiben und Thomas nicht anzusehen.
„Na, Betty? Wie gefällt Dir unsere kleine Geschichte?“
Sie zwang sich ruhiger zu atmen. Konzentrierte sich auf ihr Innerstes.
„Das Ende fehlt noch. Im Garten habe ich einige schöne kleine Überraschungen für flüchtige Bekannte aufgebaut.“
Sie hatte ihre Atmung unter Kontrolle und der Herzschlag war auch niedriger. Drei Jahre Tai Chi Chuan hatten sich gerade auf einen Schlag ausgezahlt.
„Thomas, du bist krank.“ sagte sie und hoffte, dass er das Zittern ihrer Stimme nicht wahrnahm.
„Das ist relativ. Ich verdiene mit meiner Krankheit, wenn Du es so nennen willst, Geld.“
Betty hörte, dass er näher gekommen war. Zwei Meter?
„Also komm, laß uns das Spiel beenden. Ich hab Abgabetermin für den Roman in einer Woche, und ich muss noch Korrektur lesen.“
Eins fünfzig.
„Sei kein Spielverderber.“
Ein Meter.
Blitzartig drehte sie sich um, zog in derselben Bewegung die Pistole aus dem Hosenbund.
Zehn Zentimeter vor seinem Gesicht schoss sie das Magazin leer.
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