Ich stand vor der Schulaula in der Schlange und wunderte mich, wie vertraut alles noch war. Als wären gar nicht 15 Jahre vergangen seit ich hier mein Abschlusszeugnis entgegen genommen habe. Seit damals hatte ich die Schule nicht mehr betreten. Ich war zwar einige Male daran vorbeigefahren, aber aus der Nähe hatte ich sie nicht mehr gesehen. Meine Hose kratzte – nein, ich erinnerte mich daran, dass die Hose des Anzugs kratzte, den ich damals getragen hatte. „Nimm einen in nachtblau,“ sagte meine Mutter damals im Kaufhaus, „den kannst du auch auf Hochzeiten und Beerdigungen anziehen. Und nimm etwas pflegeleichtes aus Kunstfasern, dann brauchst du kein Bügeleisen.“
Ich habe den Anzug nie wieder getragen.
Ich konnte die Glastüren sehen, wo mir unbekannte Menschen die Einladungen zum Schuljubiläum kontrollierten. Waren das auch ehemalige? Oder Lehrer, die nach meiner Zeit gekommen waren? Ich würde es an den Namensschildern erkennen können, dachte ich, wissend, dass es mich nicht mehr interessieren würde, wenn ich nah genug an sie herangekommen wäre.
Die Treppe vor der Aula, daneben das Tor des Fahrradschuppens. Ich erinnerte mich an eine Mitschülerin. Ich war in der Foto-AG und Tanja in der Theatergruppe. Sie hatte Fotos gemacht von einer Generalprobe. Schwarzweiß, und sie brauchte Ausschnittsvergrößerungen.
Es war genau hier vor der Aula, auf dem Weg zum Fahrradschuppen, als sie mich damals ansprach. Schüchtern, leise, den Blick gesenkt. Ich wusste von ihr nur, dass sie bildschön war. Niemand wusste mehr über sie und was sie mochte, nur ein oder zwei Freundinnen hatten außerhalb der Schule Kontakt mit ihr.
Ich hingegen fühlte mich wie der anerkannte und staatlich geprüfte Außenseiter. Nur in der Foto-AG war ich anerkannt, weil ich dort der einzige aus meiner Klasse war und niemand ein Vorurteil gegen mich hatte.
Am nächsten Tag gab ich Tanja die Abzüge, die ich genau nach ihren Wünschen angefertigt hatte. Sie nahm sie still entgegen, wieder gesenkten Blickes. Untypisch für ein Mädchen mied sie den Blickkontakt mit mir, was ich damals als angenehm empfand, weil mich Blickkontakt mit kichernden Mädchen nervös machte.
Ich fand die Situation überhaupt sehr angenehm.
Tanja hingegen schien enttäuscht. „Dabei habe ich die Bilder nicht nur perfekt vergrößert, sondern auch noch auf Fotopapier, das der Schule gehörte und das sie nicht zahlen muss!“ dachte ich damals.
Ich studierte zuerst Jura, reichte dann aber eine Mappe an der Akademie ein und ging dort in eine Foto-Klasse. Einer meiner Aufträge nach dem Diplom waren Standbilder bei einer Filmproduktion. In einer Szene bahnte sich eine Liebesgeschichte in einem Büro an. Sie bat ihn um Hilfe bei einem Problem an ihrer Schreibmaschine, er half ihr. Ich sollte die Romantik des Augeblicks festhalten.
Diese Szene kam mir wieder in den Sinn. Die beiden standen so im Büro, wie Tanja und ich damals vor der Aula. Sie gesenkten Blickes, leise, schüchtern und enttäuscht, weil er sie nicht in den Arm nimmt. Er freundlich, sachlich, mit gerader Stimme, aber taub und blind für ihre Signale.
Tatsächlich hatte ich mich damals in Tanja verliebt. Bis zum Abitur, das drei oder vier Monate später war. Aber als Außenseiter in eins der schönsten Mädchen verliebt zu sein? Da erging ich mich lieber in Tagträumen, als mir in der Realität eine peinliche Abfuhr nebst Gelächter der ganzen Klasse einzuhandeln.
Inzwischen war ich in der Aula und suchte an den Tischreihen einen freien Platz. Die langen Tische standen im rechten Winkel zur Bühnenkante, die Gäste mussten ihre Köpfe drehen, um die Bühne sehen zu können. Ein Platz am zweiten Tisch von links war frei. Ich war spät dran. Ich sah mich um und erkannte niemanden wieder.
Mir gegenüber saß eine Frau, die gerade mit einer Frau am Nachbartisch sprach. Sie lachten. Mein Gegenüber drehte sich um. Sie war ausgelassen, fröhlich, sie schien zu schweben, so leicht und fließend waren ihre Bewegungen.
„Hallo Thomas!“ sagte sie. „Tanja…?“ Ich hätte sie nie erkannt, wenn sie mich nicht angesprochen hätte. Es waren die ersten Worte, die wir seit der Übergabe der Fotos vor 15 Jahren gewechselt hatten.
Das offizielle Programm der Jubiläumsfeier begann und wir lauschten klassischer Musik, den Reden dreier ehemaliger und des aktuellen Schulleiters und einigen Sketchen der Theatergruppe, in der Tanja damals war.
Später, als die Feier zur Stehparty wurde, fanden wir die Gelegenheit, uns in der Ecke der Aula in Ruhe zu unterhalten. Über unsere Studien, Berufe, Kontakte zu anderen Ehemaligen.
Wir näherten uns dem Thema „Beziehungen“ wie zwei Katzen, die sich gerade darüber einigen, wer zuerst an den Futternapf darf.
Ein Kribbeln in meinem Bauch.
Ich kannte das Gefühl.
„Tanja, sag mal…“ begann ich zögernd. „Weißt Du eigentlich, dass ich damals…“ – ich stockte, rang nach Worten. „Also damals, vor dem Abi, meine ich…“. Tanja wurde rot und ich sah ihr die Spannung an, mit der sie das Ende meines Satzes erwartete.
Ich holte tief Luft. „Damals war ich unsterblich in dich verliebt.“
Jetzt war es raus. Tanja lächelte mich an. „Gut, dass du davon anfängst.“ sagte sie. „Du dummer Kerl hast mir nämlich den ersten Liebeskummer meines Lebens verschafft!“.
So war das also. Was ich damals nie zu hoffen gewagt hatte. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, Tanja zu umarmen. Das Sektglas in meiner Hand war hinderlich. Kein Tisch in der Nähe.
Ich bückte mich, um das Glas abzustellen und war nicht überrascht, als Tanja im selben Moment das gleiche tat.