Warum die beiden am selben Tisch saßen weiss ich nicht. Er saß seit 12 Uhr dort und sie kam vermutlich gegen 13 Uhr ins Café, als gerade die Marienchule Schluss hatte und nur an seinem Tisch ein Platz ohne tobende Teenies frei war.
Jedenfalls kamen sie ins Gespräch. Also er, denn die Dame, mit der er sonst dort saß und sich unterhielt, war gerade im Urlaub.
Die junge Frau, gerade halb so alt wie der Stammgast, hörte dem Monolog amüsiert zu. Und auch wir amüsierten uns über seine Ausführungen, nachdem die Schülerbande wieder abgezogen war.
Ob sie die Kirmes schon gesehen habe. Die grade aufgebaut würde. Er habe ja auch mal im Schaustellergewerbe gearbeitet, als junger Mann, und wisse Bescheid.
Konfabulierte in seiner Waschweiberstimme über einige der Fahrgeschäfte und gab die Zahlen, die in der Tageszeitung standen, größtenteils richtig wieder. Die Zeitung lag ja auch noch auf seinem Tisch. Nur gelegentlich irrte er sich mal bei der Zehnerpotenz oder rundete großzügig auf. Zwanzig Zentimeter halt.
Er fragte sie nach ihrem Beruf, überhörte die Antwort und stürzte sich thematisch darauf, dass sie sich verändern wolle. Kam direkt auf Einstellungen in seiner Firma zu sprechen.
Sie hätten da auch zwei neue Sachbearbeiter eingestellt, bei dem einen hätte er direkt gesagt, der habe Potential, und das habe er dann auch gezeigt. Hätte Dinge angefasst. In die Hand genommen. Sich klug gefragt, helfen lassen. Der andere sei so ein stiller Eigenbrödler, den mag der Chef lieber, deshalb würde er protegiert. Ok, er hat ein paar Lösungen für steuerliche Probleme gefunden, aber die Winkelzüge kannte er bestimmt aus seiner alten Firma, das zählt ja nicht.
Ob er eigentlich verheiratet sei, fragte seine Zuhörerin.
Witwer. Sagte er. Witwer.
O je, sagte sie, das täte ihr Leid.
Nicht so schlimm. Sie sei seit 5 Jahren tot. Sie waren fast 25 Jahre ein Paar gewesen.
Nach dem ersten Kind sei sie erkrankt. Die Wochenbettdepression.
Er beschrieb die Therapieversuche und die Fortschritte.
Seine Stimme hatte weiter den lustigen Klang, die Augen funkelten noch genauso spitzbübisch wie bei der Auflistung der Fahrgeschäfte unserer Kirmes.
Sie verlor die Depression fast ganz. Bis das Kind mit 6 Jahren von einem Auto überfahren wurde, weil die Mutter unaufmerksam war.
Sie versuchte nach der Beerdigung des Sohnes das erste Mal, sich umzubringen. Mit Tabletten.
Aber er kam rechtzeitig heim und der Notarzt rettete sie.
Sie kam stationär in das Landeskrankenhaus, bis der Arzt meinte, sie sei stabil.
Wieder zu Hause verfiel sie wieder in Depressionen und fand nich in ihren Beruf zurück.
Er habe dann vom Außendienst in die PR-Abteilung gewechselt, denn Handys gab es damals ja noch nicht und er wollte immer erreichbar sein und sie regelmäßig anrufen können.
Nach 4 Jahren versuchte sie es wieder.
Lachend gab er den Dialog mit dem Oberarzt des Landeskrankenhauses wieder, als sie stabilisiert entlassen wurde.
Sie bekam Antidepressiva, aber es folgten noch zwei Versuche, sich mit Medikamenten umzubringen.
„Sie fing dann an, Waldspaziergänge zu machen, wo sie…“
Das war das erste Mal, dass er einen Satz nicht zu Ende führte, sondern schluckte.
Er fing sich jedoch wieder. Ein Außendienstler mit Leib und Seele. The Show must go on.
Er erzählte vom Wald, von den Spielplätzen.
Von der Eisenbahnlinie.
Von dem Herbstmorgen.
Er holte zwischen den Sätzen Luft.
Sie war nicht zu Hause.
Nicht erreichbar.
Drei Stunden lang.
Er nahm sich frei.
Fuhr heim.
Der Bahnübergang.
Schranken waren unten.
Blaulicht.
Feuerwehr. Krankenwagen.
Polizei.
Er hielt inne.
Eine Träne tropfte auf seine Serviette.