Ich ging eine Straße entlang. Ich kannte jeden Stein der Straße, aber die Straße selbst kannte ich nicht. Nicht mehr. Ich wußte, daß ich die gesamte Straße bis zu der Stelle, an der ich mich befand, zu Fuß zurückgelegt hatte. Ich war erschöpft und enttäuscht, als ich sah, wie trostlos die Straße hier in dieser Gegend war. Ich erinnerte mich an den Anfang der Straße, als ich mich entschloß, diesen Weg zu wählen.

Sie war breit, sauber, einladend. Wenige Autos. Viel Platz, spielende Kinder, bunte Gärten, fröhliche Menschen. Viele fröhliche Menschen. Die Straße führte, sehr überschaubar, lange geradeaus, ohne dabei langweilig zu werden. Man kam auf ihr gut voran. Ich kam auf ihr gut voran. Zuerst entdeckte ich ständig Neues. Auf dem Weg zu meinem Ziel hatte ich wirklich sehr viel Spaß.

Später wurde die Straße sachlicher. Verkehr kam auf, Autos fuhren schnell auf der Fahrbahn. Radfahrer mußten auf den Gehweg ausweichen, um nicht von den Autos umgefahren zu werden. Dabei fuhren einige mich fast um. Andere Straßen mit fröhlichen Menschen und bunten Gärten luden mich ein, abzubiegen und auf ihnen weiterzugehen statt auf der Straße, auf der ich mich befand.

Ich hatte Angst, die Straße zu verlassen, da ich nicht wußte, was mich auf den anderen Straßen erwartete. Ich hoffte von meiner Straße, daß sie wieder so schön würde, wie sie am Anfang war. Zurückgehen konnte ich aber nicht, weil ich ja mein Ziel erreichen wollte. Und um das Ziel zu erreichen, da war ich mir sicher, war dies die richtige Straße. Die anderen Straßen führten zwar auch zu erreichenswerten Zielen, aber eben nicht zu meinem Ziel. Und darauf, dies zu erreichen, hatte ich mich die ganze bisherige Strecke über gefreut. Da konnte ich nicht einfach die Straße verlassen, die mich schon so weit geführt hatte.

So ging ich weiter die Straße entlang, von der ich hoffte, daß sie mich zu meinem Ziel führen wird, wenn ich sie nur bis zu ihrem Ende entlang ging. Und sie wurde immer trostloser. Immer grauer, schließlich zogen sogar Wolken auf. Die Straße wurde immer weniger meine Straße als vielmehr die Straße der Fabriken, die schon seit einiger Zeit die fröhlichen Menschen und die bunten Gärten abgelöst hatten. Auch der Verkehr bestand immer weniger aus Wagen mit Menschen darin; vielmehr wurden es immer mehr Lieferwagen, welche die Fabriken belieferten und von dort Waren abholten.

Es gab keine Straßenkreuzung mehr ohne Ampeln, die auch notwendig waren, damit man die Kreuzungen ohne Gefahr überqueren konnte. Immer öfter waren auf dem Gehweg häßliche Laderampen der Fabriken, an die immer größere Lastwagen fuhren um immer größere Pakete abzuliefern oder einzuladen. Einige Male half ich beim Einladen oder Abliefern sogar mit, damit ich nicht zu lange warten mußte, bis der Gehweg wieder frei war. Da ich aber gerne helfe und diese Hilfe mich auch schneller an mein Ziel brachte, tat ich es gerne.

Wieder kamen Seitenstraßen, die mich einluden, auf ihnen weiterzugehen; jedoch hatte ich schon so viel Kraft investiert, auf meiner Straße vorwärts zu kommen, daß ich diese Seitenstraßen gar nicht mehr sah. Und die Fabriken wurden immer größer und grauer. Einmal war da eine Kreuzung und ich wußte nicht, welche der Abzweigungen auf der anderen Seite meine Straße war. Ich fragte einen Mann, der einen Wegweiser trug. Er sagte, es sei gleichgültig, wie der Wegweiser gehalten würde, er zeige immer die richtige Richtung. Ich bat den Mann, den Wegweiser zu halten und las die Schilder. Mein Ziel fand ich nicht darunter. Ich wollte den Mann fragen, in welcher Richtung denn mein Ziel läge, aber ich wußte nicht mehr, was mein Ziel war.

Also las ich statt der Ziele auf dem Wegweiser die Schilder mit den Straßennamen und fand meine Straße darunter wieder. Ich zweifelte daran, daß sie mich an mein Ziel führen würde, denn das Ziel, auf das ich nach der Aussage des Wegweisers zuging, kannte ich nicht. Ich wußte eben nur, daß es nicht mein Ziel war. Ich träumte von den Straßen, auf deren Einladungen ich nicht eingegangen war. Ich ärgerte mich, denn ich konnte nicht zurückgehen. Ich kannte jeden Stein der Straße, da ich wußte, daß ich sie selbst gebaut hatte. Ich wußte aber nicht mehr, wo sie mich hinführte. Ich traf wieder den Mann mit dem Wegweiser, der mir sagte, die Straße wäre vor einiger Zeit umgeleitet worden, um einer Fabrik Platz zu machen.

Ich setzte mich an der nächsten Kreuzung auf den Boden, auf die kalten Steine. Ich dachte an den Anfang des Weges. An die fröhlichen Menschen und die bunten Gärten. An die spielenden Kinder. Im Traum wußte ich es wohl, wenn ich mein Ziel wiedersah, konnte es aber nicht mehr erkennen, nicht mehr beschreiben. Da sah ich ein Plakat mit einer Karte der Straßen dieser Gegend. Ich ging darauf zu, um die Karte nach meinem Ziel zu befragen und danach, wann die Straße mich wieder dorthin führen würde.

Auf der Karte konnte ich auch nichts finden, was ich als mein Ziel wiedererkannte. Also entschloß ich mich, meine Straße zu verlassen und eine andere zu wählen. Jedoch waren die Straßen, die von dieser Kreuzung abgingen, zu nah an meiner Straße, als daß ich diese und mein verlorenes Ziel hätte vergessen können. Auch stellte ich fest, daß diese Straßen schon von anderen Menschen beschritten wurden, mit denen ich sie nicht teilen wollte, weil sie sie sicherlich auch nicht mit mir teilen wollten. Trotzdem bog in eine andere Straße ab, nur um von meiner Straße fort zu kommen. Ich bog gleich wieder in die nächste Straße ab und von dort wieder in die nächsten und so fort, bis ich von meiner Straße nichts mehr sah und hörte.

Eine Straße, die ich fand, hatte einen Wegweiser. Ich folgte ihm und fand einen Eingang. Er führte mich in eine U-Bahnstation. Dort waren viele Menschen, alle schienen, wie ich, ihr Ziel verloren zu haben. Ich stieg in die U-Bahn und fand den Fahrersitz leer. Ich bestieg ihn – ich war die einzige Person in dieser Bahn – und bewegte einen Hebel. Die Bahn rollte an, wurde schneller. Immer schneller. Und nach einigen Sekunden wußte ich, warum niemand außer mir mit ihr fuhr.

Im Tunnel war kein Licht. Man sah nichts. Ich raste ins Nichts. Kein Instrument im Führerhaus zeigte die Geschwindigkeit an, das Funkgerät gab keinen Ton von sich. Ich hätte den Hebel zurückziehen können, um die Bahn abzubremsen, aber ich konnte nicht. Das Tempo wurde zu einem Rausch, ich fuhr nicht mehr, ich flog. Dann hatte ich das Gefühl, nur noch zu fallen, in eine bodenlose Tiefe. Aber das Fallen gefiel mir. Ich wollte erst gar nicht, daß es endete. Dann dachte ich, daß der Tunnel sicher ein Ende habe. Daß er ein Ende haben müsse. Ich hatte Angst, den Hebel zu ziehen, um die Fahrt zu verlangsamen, denn ich wollte nicht stillstehen. Ich wollte mein Ziel erreichen, von dem ich nicht mehr wußte, was und wo es war. Aber ich wußte auch, daß spätestens das Ende des Tunnels mich in schrecklicher Weise von der Unsinnigkeit meines Tuns überzeugen würde.

Schließlich nahm ich mich zusammen und überwand mich selbst. Ich zog den Hebel rasch nach hinten. Die Bahn wurde langsamer, immer langsamer. Da meine Augen sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich ansatzweise die Strukturen der Tunnelwände erkennen. Vor mir auf der Strecke sah ich Licht, das offensichtlich von einer anderen U-Bahnstation ausging. Ich brachte den Zug in dieser Station zum stehen; oder vielmehr: ich wünschte mir, daß er stehenblieb, und er tat es ohne mein Zutun.

Ich verließ den Zug – die Station war menschenleer. Ich ging die Treppe hinauf in die Eingangshalle – ich wußte, daß am oberen Ende der Treppe eine Eingangshalle war, obwohl ich die Station noch nie gesehen hatte – und studierte die dort aushängenden Pläne der Umgebung. Ich sah etwas, das mich interessierte. Durch einen Seiteneingang verließ ich die Station und fand mich in einem Park wieder.

Der Park war schön und grün, es wimmelte von spielenden Kindern und fröhlichen Menschen. Ich setzte mich auf eine Bank und sah mich um. Hier war es schön. Hier konnte ich sitzen und mich an der Umgebung und den Menschen erfreuen. Ich wußte auf einmal gar nicht mehr, warum ich zuvor einem Ziel hinterhergelaufen war, denn ich erkannte, daß es gar nicht das Ziel war, das ich suchte. Ich sah Kinder spielen, Enten schwimmen, Möwen fliegen. Hunde bellen. Andere Menschen, die ich sah, freuten sich ebenfalls. Ich ging im Park spazieren.

Ganz ohne Ziel.