Er musste den Brief nicht öffnen. Die Zeichen waren zu klar, schon bevor der Postbote geklingelt hatte.
Ein Brief in blauem Umschlag. Er musste auf einem aufwendigen Formular unterschreiben, dass er den Brief erhalten habe. Gerichte verschicken Postzustellungsurkunden.
Wenn sie jemanden anklagen.
Er wusste es schon morgens, als er den Laden aufgeschlossen hatte. Die Sonne stand in einem Winkel am Himmel, in dem er sie in 8 Jahren nicht gesehen hatte. Dabei war er seit 8 Jahren jeden Tag von 8 Uhr früh bis 8 Uhr abends im Laden, auch Sonntags, da war aber nur Besichtigung, weil er nichts verkaufen durfte.
Sonntags war der Laden immer voll. Wenn nur jeder zehnte Sonntagsbesucher auch ein Bild gekauft hätte! Er wäre über die Runden gekommen! Er hätte jemanden einstellen können, damit er auch mal einen Tag zu Hause bleiben kann.
Und nun stand er da, in den Trümmern seiner Existenz.
Das nächste Zeichen sah er, als er sein Frühstück holte. Er schloss den Laden kurz ab, nachdem ein Kunde das tags zuvor gekaufte Bild abgeholt hatte. Rannte in den Supermarkt. Kaufte zwei Tüten Erdnüsse, geröstet und gesalzen, und eine Tüte Ingwerstücke. Die Kasse zeigte 7,77 DM an. Nicht nur 666, die Zahl des Tieres aus der Offenbarung des Johannes, nein! 777! Das hätte ihn warnen müssen.
Jetzt, wo der Brief angekommen war, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Er blickte sein Lieblingsbild an, das er nie im Leben verkauft hätte. Selbst, wenn es einem Kunden gefallen hätte. Es erinnerte ihn an seinen Vater, der vor dem Krieg ein Jagdrevier hatte. Bevor er in Frankreich fiel.
Ein Kaninchen, ein Fasan, beide waidgerecht auf dem Tisch ausgebreitet, dazu Tannenzweige und allerlei andere Jagdsymbolik, die er jedem Kunden aufs penibelste erklärt hatte, wenn dieser nur lange genug vor dem Bild verweilte.
Marianne fand es geschmacklos. Deshalb blieb es im Laden, obschon er es damals für die Wohnung erstanden hatte. Es war das einzige Bild, das er auf einer Auktion erworben hatte, die anderen stammten aus Wohnungsauflösungen und von verarmten Künstlern der örtlichen Akademie.
Künstler, die tiefdekolletierte Zigeunerinnen und alte Männer mit langen Tabakspfeifen malen mussten, um über die Runden zu kommen, und nicht das malen durften, was ihrer Kunst entsprochen hätte. Er hatte Mitleid mit ihnen; das Bild, das er nie zu Hause aufhängen durfte neben Mariannes Drucken von Kandinsky und Immendorf machte sie zu Leidensgenossen.
Nur mit anderem Vorzeichen.
Auch die Taube hätte ihn aufmerksam machen müssen, die exakt die Mitte der Motorhaube seines Geschäftsfahrzeugs  getroffen hatte. Ein Treffer wie sechs Richtige im Lotto.
Er musste den Umschlag nicht öffnen. Der enthielt eine Anklage. Keiner Straftat hatte er sich schuldig gemacht. Nein nein. Bankrott, so lautete die Anklage. Der Umschlag enthielt den ersten Mahnbescheid, den ein Gläubiger gegen ihn erwirkt hatte. Hohes Gericht, ich bekenne mich schuldig im Namen des Gesetzes nur lassensiemirmeinenladen…
Lassen Sie mir meinen Laden! Wie soll ich Marianne erklären, was mit dem Erbe ihres Onkels geschehen ist, wenn ich den Laden nicht mehr habe? Wie soll ich vor den Kindern dastehen? Hohes Gericht! Haben Sie Erbarmen! Jeder hat doch eine zweite Chance verdient!
Ausweglos. Seit Monaten hatte er keine Rechnung mehr bezahlen können. Den Mietvertrag fürs Ladenlokal hatte der Hausbesitzer längst gekündigt.
Er würde sein Gesicht verlieren, so oder so. Das stand fest. Wenn schon Scheiße bauen, dann aber mit Schwung, so hatten sie als Kinder gescherzt.
Er dachte an die Lebensversicherung, als er das Fläschchen aus dem Auto holte. E605, so hatte er gelesen, sei in Kirschsauce nicht zu schmecken. Und kein Gerichtsmediziner würde ernsthaft noch danach suchen. Selbst Marianne wusste nichts von diesem Fläschchen, das er beim Aufräumen in der Garage gefunden hatte.
Die Symptome glichen denen eines Herzinfarktes, und sein Hausarzt würde jedem bestätigen, dass es ein Herzinfarkt war, der ihn dahingerafft hatte. In seinem Ohrensessel, der im Laden stand.
Er nahm das Vanilleeis mit den heißen Kirschen, entleerte die Flasche und warf sie auf der Straße in eine der Mülltonnen.
In den Laden zurückgekehrt genoss er das Eis.