Er war ein ruhiger Stammgast. Kam regelmäßig 2-3 Mal die Woche und verbrachte die Nachmittage bei uns. Und profitierte davon, dass an jedem Tisch Steckdosen für Notebooks erreichbar waren. Er sprach nicht viel, nur einmal kamen wir kurz ins Gespräch, als er mich um den Schlüssel für unser WLAN bat – das ich Stammkunden wie ihm gerne zur Verfügung stelle.
Auch heute arbeitete er, schrieb EMails, recherchierte. Ich konnte wie so oft seinen Bildschirm beobachten, während ich auf Kunden wartete. Es war wie jedes Mal, beruhigende Routine für mich.
Bis er auf der Website einer Hochschule auf einen Namen stieß, der ihn zu einem Foto führte. Eine Gruppe Frauen in weißen Kitteln, das Team der Ernährungsberatung eines Diabetes-Instituts. Versteinert saß er vor dem Notebook und starrt das Bild an. Er zoomte hinein und auf dem Schirm erschien das Gesicht einer Frau Anfang Vierzig, etwa in seinem Alter, vielleicht etwas jünger. Ihr kurzes braunes Haar passte zu ihren großen Augen, die aussahen, als seien sie aus Milchschokolade mit einem Tupfer Zartbitter in der Mitte.
Trotz des Lächelns wirkte sie ein Wenig müde und traurig.
Er wechselte zu einer anderen Website. Ein Ruderverein, er klickte sich durch die Vereinsgeschichte. Im Jahr 1985 angekommen vergrößerte er sich die Bilder der Mannschaften. Der Doppelvierer mit Steuermann der Jungs – ich erkannte ihn, er stand links außen neben dem deutlich schmächtigen Steuermann. Diese Position nennt man Schlagmann, er hat den Takt angegeben und das Tempo getrieben, war offenbar der Ausdauerndste.
Er klickte sich durch die Mädchenmannschaften. Im Riemen-Zweier ohne Steuerfrau fand er sie. Sie trug das Haar schon damals so kurz und strubbelig und ihre Augen waren auf der alten Aufnahme, die wohl aus einem 9×13-Bild gescannt war, schon genauso milchschokoladen mit dem niedlichen, angedeuteten Silberblick. Auch ihr Lächeln war das selbe, nur strahlte sie auf dem Bild so viel Lebensfreude und Energie aus, dass sie für zwei Leben zu reichen schienen.
Er erinnerte sich an damals.
Das Regattafest des Ruderclubs nach den Stadtmeisterschaften, die in ihrem Bootshaus ausgetragen wurden.
Mit einem Kumpel stand er hinter den Tischen mit der Stereoanlage, sie waren die DJs. Natürlich klappte nicht alles, die Lieder kamen größtenteils von Cassetten, die vom Radio aufgenommen waren, und es gab mehrmals Bandsalat. Dafür nahmen sie bereitwillig Musikwünsche an und erfüllten alle, die sie erfüllen konnten. Einige besonders absurde Wünsche kamen ohne Absender per Boten auf Zetteln. Auch sie brachte ihm einen Zettel.
Jedoch ohne Musikwunsch.
„Ich mag sogar die Pannen, die Dir passieren.“
Er war sprachlos. Starrte auf den Zettel. Sie stand alleine in der Ecke, trank ihre Cola, blickte immer wieder wie zufällig zu ihm hin.
Jemand hatte sich „Father of Day, Father of Night“ gewünscht, rund 10 Minuten Manfred Mann’s Earth Band bedeutete das. Sein DJ-Kollege hatte die nächsten drei Songs auch schon gefunden. Er hatte also Zeit. Sie tanzte alleine mit geschlossenen Augen und in die Luft gereckten Armen in der Mitte der Tanzfläche. Alle, die nicht grade den getragenen Rhythmus zum Klammerblues nutzten, standen um sie herum. Augenscheinlich kannte sie das Lied sehr gut und ihre Choreographie passte zu jeder Passage des Songs.
Als das langsame Gitarrensolo erklang stand auch er da, in der ersten Reihe, sah sie an. Sie öffnete die Augen, ein Schritt auf ihn zu ergriff sie seine Hand und zog ihn in die Mitte zu sich. Das war ihre Manege und sie legte ihre Arme auf seine Schulten, sah ihn fordernd an. Er umfasste ihre Hüften und sie nahmen beide den Rhythmus auf, das Gitarrensolo wurde schneller und sie drehte Pirouetten, um wieder zu ihm zu kommen, und dann die härter werdende Passage des Songs zum Rocken zu nutzen.
Als die im Dialog mit dem Chor gesungene Strophe begann tanzten auch sie den Blues, ließen einander nicht mehr los und Beim Gitarrensolo am Ende des Songs standen sie wie festgewachsen im Kreis der anderen, küssten sich und machten sich keine Gedanken, ob ihnen der Applaus gefiel, den sie bekamen.
Eine Woche später, am 9. August, wussten sie, dass sie ein Paar sein würden und es nicht nur eine dumme Partyknutscherei war. Er wusste, dass sie mit einem anderen Typen aus dem Leichtathletikverein ein paarmal Eis essen war, aber sie erzählte erst nicht viel von ihm. Später dann erfuhr er, wie der andere zwar mit ihr geflirtet hatte, sich aber nicht entschließen konnte, Nägel mit Köpfen zu machen.
Das hatte sie verletzt und dann kam die Party und sie verliebte sich in einen Vereinskameraden, den sie schon länger kannte. Soweit alltäglich.
Bald würden beide mit ihren Schulen auf Studienfahrt gehen, sie nach Rom, er nach London. Sie verbrachten jede freie Sekunde miteinander und nutzten, dass seine Eltern gerade den ihren Sohn Urlaub machten und das Doppelbett frei stand.
Der Tag der Abreise zu den Klassenfahrten war schwer. Beide hatten sich etwas für den anderen ausgedacht: Er schenkte ihr eine Umhängetasche aus Stoff, wie sie beim Militär benutzt wurde. Grobe Baumwolle, aber schon zu klein für etwas in DIN A4, Aluschnallen zum Verschließen. Er hatte sie den Stoff schwarz gefärbt und silberne Sterne und einige Buttons drauf gesteckt. In der Tasche waren mit den Wochentagen beschriftete Umschläge, in jedem war eine Postkarte mit einer Liebeserklärung.
Ihr Geschenk war einfacher, aber ungleich persönlicher – ein getragenes T-Shirt, weil er ihren Geruch so liebte.
Das Wiedersehen nach der Klassenfahrt war wundervoll, und die nächsten Wochen verliefen wie ein Traum. Ab und zu konnte sie nicht, weil außer Training und Hausaufgaben die eine oder andere Freundin nach ihr verlangte und auch die Familie Ansprüche stellte. Diese Abende nutzte er, um auch seinen Freundeskreis nicht zu vernachlässigen.
Er war glücklich.
Bis der Freund, mit dem er damals DJ gespielt hatte, ihn abends anrief.
„Ich hab Deine Maus mit nem anderen Typen beim Italiener gesehen, falls es Dich interessiert.“
Sie erzählte am nächsten Tag so selbstverständlich von ihrem Cousin, der zu Besuch war, dass er beruhigt war.
An immer mehr Abenden hatte sie Gründe, diese nicht mit ihm zu verbringen. Er wurde nachdenklich. Ende September war es, er suchte sich die Nummer des anderen aus dem Telefonbuch und rief an einem der Abende, an denen sie keine Zeit hatte, an. Der Vater ging ans Telefon, nein, mein Sohn hat ein Rendez-Vous, den können Sie nicht sprechen.
Er hatte Angst um sie. Es war völlig klar, dass sie noch an dem anderen hing, der sie so schmerzhaft abserviert hatte. Er spürte: Wenn der andere sich entscheidet wird sie zu ihm gehen. Es schmerzte ihn nicht, bloß die Zweitbesetzung zu sein, sondern die Erkenntnis, dass sein Glück einzig an den Entscheidungen hing, die ein anderer Mensch trifft, den er nur vom Namen kennt.
Seine Versuche, sie zur Rede zu stellen, führten zu Streit, den er nicht wollte. So spielte er das Spiel mit. Ende Oktober, am Tag 90 Ihrer Beziehung, war es dann soweit. Der andere hatte sich durchgerungen, vielleicht hatte sie ihn auch überrumpelt. Was egal war, das Ergebnis war das selbe.
Vielleicht wusste der andere sogar, dass die beiden ein Paar waren, und erst seine Eifersucht auf meinen Stammgast brachte ihm die Klarheit über die eigenen Gefühle.
Das war über 20 Jahre her und er hatte es bis eben verdrängt.
Er schaute sich wieder das Bild des Diabetes-Teams an. Versank in ihren Augen, wuschelte wie damals in ihrem kurzen, braunen Haar. Sie war immernoch sportlich, lief bestimmt, vielleicht ruderte sie sogar noch. Aber sie lebte in Süddeutschland.
Er klickte zurück, suchte ihren Namen. Sie trug heute einen Doppelnamen. Der Name hinter dem Bindestrich war nicht der des anderen.
Sie war zwar Oecotrophologin mit Diplom und arbeitete ganztags, hatte aber keine verantwortliche Stelle. Er googelte nach ihrem Doppelnamen und fand ein paar Hinweise auf Sportwettbewerbe und einen Artikel über eine Schule. Dort waren ihre Kinder und sie in der Elternplegschaft. Er rechnte nach: Die beiden wären jetzt 13 und 15, kein typisches Alter für eine ganztags arbeitende Mutter. Außer, sie ist unterhaltsberechtigt. Er fand ihre Adresse im Telefonbuch – dort stand der Anfangsbuchstabe ihres Namens als Abkürzung. Lebt sie dort alleine mit den Kindern? Die Hausnummer war 38b. Google Maps zeigte dort ein Einfamilienhaus, das „b“ stand wohl für eine Einliegerwohnung mit eigenem Eingang. In der Hausnummer ohne „b“ wohnte jemand mit einem völlig anderen Namen.
Er sah auf die Uhr, sie würde in der Klinik sein, nahm sein Handy und wählte ihre Nummer.
Es war das erste Mal, dass er hier im Café telefonierte. Es war auch nur ein kurzes Gespräch, aber eines mit viel Lachen. Er schrieb eine weitere Telefonnummer auf eine Serviette.
„Bis heute Abend, ich freu mich!“ schloß er und legte auf.
2 comments
Kommentar by Quirina on 11. Januar 2012 at 23:34
Sehr schön geschrieben, Volker. Wenn Du Kaffee machen kannst wie Du schreibst, werde ich gern Stammgast in deinem Kaffeehaus. 🙂
Kommentar by Barista on 11. Januar 2012 at 23:38
Vielen Dank 😉 Ich freue mich über regelmäßige Gäste.