Der Äpfelchen begehrt ihr sehr,
Und schon vom Paradiese her.
Von Freuden fühl ich mich bewegt,
Dass auch mein Garten solche trägt.
(Goethe)

Schließlich hatten sie das Haus erreicht und konnten ihre Koffer auspacken.
Ihre Nerven waren schon recht dünn als sie an dem Bungalow ankamen, den sie gebucht hatten. Im Reisebüro hatten sie das Ferienhaus direkt am Meer gewählt. „Urlaub im Paradies“ wurde versprochen, und – natürlich – ein „Leben wie Gott in Frankreich“.
Davon war bis jetzt noch nichts zu sehen.
Nicht nur, dass sie sich mehrmals verfahren hatten, weil auf den Wegweisern die französischen Ortsnamen mit Grafitties besprüht und die bretonischen Namen nicht in der Strassenkarte verzeichnet waren. In St. Malo fanden sie erst kein Zimmer und dann nur eine staubige Stube in Dunkelgrün und Dunkelbraun. Und kurz vor dem Ziel hatten sie noch einen platten Reifen.
Das Leitmotiv ihrer ersten zwei Tage in Frankreich lautete „c’est dommage“ – der einzige Brocken Französisch, den beide fließend über die Lippen brachten.
Am Bungalow empfing sie eine Französin, die im Takt ihrer Worte heftig mit den Armen fuchtelte. Der Bungalow war demnach nicht frei, dem Reisebüro war ein Fehler unterlaufen. C’est dommage, vraiment.
Sie saßen wieder im Auto. Sollten sie den Urlaub nicht besser abbrechen? Bei all den Pannen steht er bestimmt unter keinem guten Stern.
Am Bungalow hatten sie die Fotokopie einer Landkarte erhalten, Ein winziger Ort war markiert: Plélo. Dort hätte das Reisebüro für einen angemessenen Ersatz gesorgt.
Eine Unterkunft für die Nacht brauchten sie auf alle Fälle, und das Haus konnte auch nicht schlimmer sein als die Kaschemme in St. Malo.
„Hast du gerochen, was ich gerochen habe?“ fragte sie.
„Der Bungalow sollte mal Mundwasser benutzen.“
„Der Ersatz kann nur noch besser sein.“
„Dein Wort in Gottes Ohr.“

Martin versuchte, Plélo auf seiner eigenen Karte zu finden. Die Nachbarorte fand er, aber Plélo mitsamt der Straße, an der es lag, existierte nur auf der Kopie.
Die Ortschaften, die sie nun passierten, wurden immer kleiner, staubiger und grauer.
In einem dieser kleinen, staubigen, grauen Ort hielten sie am Kirchplatz und fragten einen Bretonen mit zerknittertem rostfarbenen Gesicht, die Gauloise im Mundwinkel, nach dem Weg. Anna zeigte ihm die Kopie. Die Gesichtsfarbe des Mannes schlug in fahles Weiss um, er schüttelte ernergisch den Kopf, die Gauloise fiel zu Boden. Anna hatte Mühe, ihm die Kopie wieder abzunehmen.
Bislang waren die Einheimischen immer freundlich und zuvorkommend. Jetzt schienen sie so tief in die Provinz vorgedrungen zu sein, dass das Ende des Krieges sich noch nicht herumgesprochen hatte.
Sie fuhren weiter zum nächsten Ort. Dort ging eine Frau mit ihrem Kind an der Hand über den Kirchplatz. Martin fragte nach Plélo.
Als sie den Ortsnamen hörte verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht. Sie drehte sich um, zerrte ihr Kind weg und verschwand in einer Gasse.
Der letzte Ort vor Plélo schien verlassen. Graue Natursteinhäuser, die meisten Fensterläden geschlossen, ein staubiger Kirchplatz mit einem gedrungenen Gotteshaus.
Die Strasse war am Ortsausgang durch ein Stück aus einem dicken Baumstamm blockiert. Anna und Martin konnten es nicht bewegen. Das letzte Haus an der Strasse, 30 oder 40 Meter zurück, schien ebenso unbewohnt wie der Rest des Dorfes.
Martin band ein Ende des Abschleppseils um den Stamm, befestigte das andere an der Abschleppöse. Das Auto zog am Stamm und drehte ihn so, dass sie vorbeifahren konnten.
Den kleinen Jungen, der aus dem scheinbar unbewohnten Haus herausrannte und hinter der nächsten Kurve verschwand, sahen sie nicht. Er hätte sie allerdings auch nicht beunruhigt.
Bevor sie weiterfuhren tranken sie noch ein paar Schluck Wasser. Zum Glück warf Anna einen Blick in den Schminkspiegel, sonst hätten sie die Männer, die mit Knüppeln und Heugabeln auf das Auto zukamen, nicht bemerkt. Martin drehte sich ungläubig um. Die Szene, die sich durch das Rückfenster bot, hätte aus einem alten Film stammen können: Französische Bauern verjagen einen Nazi-Kollaborateur aus ihrem Dorf.
Martin startete den Motor und gab Gas. Die Reifen drehten durch, und eine dichte Staubwolke entstand. Die Pflastersteine, die das Auto nur knapp verfehlten, konnten sie daher nicht sehen.

Das Ersatzhaus war in der Tat besser. Nein: Es war unglaublich. Plélo bestand nur aus einem Bauernhof und der Anhöhe mit dem Ferienhaus. Es war aus Naturstein gebaut und gekälkt, hatte niedliche Holzfensterchen und schien mit seinen flammendroten Dachziegeln aus einem Märchen entliehen. An der Tür hing ein weiterer Zettel; der Schlüssel könne beim Bauern nebenan abgeholt werden.
Auf dem Bauernhof empfing sie eine junge schwarzhaarige Französin. Sie war freundlich. Ihr Deutsch war akzentfrei. Sie zweifelten nicht mehr daran, den Urlaub fortzusetzen.

Die Koffer waren inzwischen ausgepackt, die Betten bereitet.
Durch das Fenster hatten sie einen atemberaubenden Blick über Apfelplantagen und Felder mit Kohl und Weizen. Weit entfernt lag die Route Nationale 12. Die Zimmer waren in frischen Farben tapeziert, hatten neue, moderne Möbel. Es roch nach frischen Blumen und in der Küche erwartete sie eine Schale bester bretonischer Butterkekse.
Martin holte die Vorräte aus dem Auto und baute in der Küche eine Reihe von Lebensmitteln für das Abendessen auf.
Er brauchte noch heißes Wasser für den Tee.
Die Gasflasche für den Herd war leer.
„Entweder verzichten wir auf heissen Tee oder wir nehmen das Angebot der polyglotten Bäuerin an, sie jederzeit anzusprechen, wenn wir ein Problem hätten.“ Wie meist brachte Anna die Sache auf den Punkt.
„Dann lass uns rüberghehen bevor es dunkel wird.“

Die junge Französin kam mit drei Gläsern und zwei grünlichen, verkorkten Flaschen ohne Etikett zurück in die bäuerliche Küche. Routiniert öffnete sie eine Flasche – ein fröhlich perlender Wein, fast schon Sekt.
Der Cidre schmeckte vorzüglich. Nicht die süße Suppe, die in Deutschland im Supermarkt verkauft wurde.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Sie strich sich ihr kinnlanges schwarzes Haar hinter das Ohr.
Martin kam auf die leere Gasflasche zu sprechen.
„Tatsächlich, die hatten wir nicht mehr kontrolliert. Mein Vater wird gleich wieder zu Hause sein, dann bringt er ihnen eine volle Flasche.“
Sie studiere Germanistik in Paris und sei nur auf dem Hof, wenn sie Ferien habe. Der Vater sei Dachdecker, Spezialist für Kirchendächer, habe sich aber zur Ruhe gesetzt und den Betrieb ihrem Bruder übertragen. Der Bauernhof sei sein Hobby.
„Und was baut er an?“ Anna wurde neugierig.
„Er sagt immer: Wir müssen nur Brot, Käse und Rotwein kaufen, der Rest ist vom eigenen Land.“
Ein alter Trecker ratterte über den Hof.
„Gemüse, Äpfel und Schweine. Die Schweine kriegen nur Futter von diesem Hof. Vater schlachtet auch selber.“
„Rinder haben sie keine?“
„Nein, Vater würde es nie übers Herz bringen, ein Lebewesen mit Hörnern umzubringen!“ Sie lachte.
Aus dem Schuppen war ein Klirren zu hören.
Sie plauschten noch ein wenig über Gott und die Welt.
Die Küchentür quietschte und schwang auf.
Der Bauer trug eine verschlissene Cordhose, darüber ein Holzfällerhemd. Die schweren Arbeitsschuhe hatte er bereits gegen weiche, warme Pantoffeln getauscht. Seine ehemals beige Baskenmütze aus Cord behielt er jedoch auf dem Kopf. Sie schien nahtlos in das wettergegerbte Gesicht überzugehen.
Die Tochter begrüßte ihn und stellte die Gäste vor. Er nuschelte einen Gruß und kratzte sich durch die Mütze am Kopf.
Ein kurzer Dialog mit der Tochter, und der Bauer schlurfte aus der Küche. Nach einigen Sekunden erschien er wieder und reichte seiner Tochter eine weitere verkorkte Flasche. Er schlurfte weiter in die Diele und verließ das Haus..
„Mein Vater wird die Gasflasche gleich austauschen. Er möchte, dass ich ihnen eine Entschädigung für ihre Unannehm­lich­keiten überreiche.“
„Aber ich bitte sie…“ begann Martin, kam aber nicht zu Wort.
„Nein nein, das lässt mein Vater sich nicht nehmen.“ Sie stellte die Flasche auf den Tisch.
Ein mit rotem Wachs versiegelter Korken, schwarzes Glas. Der Inhalt war kaum auszumachen. Kein Etikett.
„Mein Vater besitzt eine Destillier-Anlage. Das ist sein Calvados.“
Anna wurde neugierig, natürlich kannte sie Calvados. „Destillieren sie dazu ihren Cidre?“
“ Im Prinzip ja. Aber es ist eine besondere Apfelsorte, besondere Pflege, besondere Sorgfalt der Herstellung… Vater sagt, alle Weisheit dieser Welt läge in seinem Calvados.“
Der Bauer kam wieder in die Küche und ließ über seine Tochter mitteilen, dass die neue Gasflasche angeschlossen sei.
Die Urlauber dankten für die Hilfe und den Calvados. Hungrig beeilten sie sich, in ihr Haus zurückzukehren.

Das Abendbrot war vorzüglich. Sie hatten den Rat eines Freundes angenommen, sich erst in Frankreich mit Lebensmitteln zu versorgen.
Anna öffnete die Calvadosflasche. Ihre vollen Mägen sehnten sich nach einem Digestiv.
Eine goldene Flüssigkeit ergoss sich in ihre Gläser, das Aroma fern von allem, was die Urlauber in ihrem Leben getrunken hatten. Erinnerungen wurden wach an Erlebtes, Verlorenes und Erträumtes.
Sie stießen miteinander an und küssten sich.
Während der goldene Saft ihre Kehlen hinunterrann
wussten sie nicht, ob ihnen vom Genuss schwindlig wurde oder vom Alkohol. Bunte Lichter tanzten vor ihren Augen, formten Bilder, Szenen: Die Geschichte des Universums, der Sonne, der Erde, die Geburt des ersten Menschen, vorbeiziehende Kulturen, Völker und Herrscher.
Sie sahen einen Garten mit paradiesischen Früchten und sahen sich selbst dort leben, in Frieden mit sich und der Welt. Und siehe: es war alles nur Illusion; sie lebten nur scheinbar in Frieden, weil kein anderer Mensch dort war, den Frieden in Frage zu stellen.
Das Paradies – ein Hort der Einfalt und Selbstgerechtigkeit.
Doch sie waren aus dem Garten Eden herausgetreten. Es gab für sie kein Gut mehr und kein Böse und auch kein Zurück. Schwarz und Weiss waren nur noch Illusion. Gott und Teufel waren eins, nur zwei Aspekte derselben allmächtigen Entität, der reinen Wahrheit und Erkenntnis.
Was auch immer mit ihnen geschehen war – die Welt war anders als zuvor. Es war so leicht, im Licht der Gerechtigkeit zu stehen und auf die herabzublicken, die sich im Schatten versteckten.
Doch wenn es kein reines Licht und keinen reinen Schatten mehr gibt, dann ist jeder Böse auch gut und jeder Gute böse.
Licht und Schatten können ohne einander nicht sein, denn ohne Schatten erkennt man nicht das Licht und erst das gibt dem Schatten Gestalt.

Gleich, wie sie ihr Leben weiterführen würden, eines war klar: Es war nicht leichter geworden durch die Erkenntnis.

Aber wahrhaftiger.